Lieb, Hans-Heinrich. 2005. "Notions of paradigm in grammar"
Lieb, Hans-Heinrich. 2005. "Notions of paradigm in grammar".

In: D. Alan Cruse, Franz Hundsnurscher, Michael Job, and Peter Lutzeier (eds). Lexikologie / Lexicology: Ein internationales Handbuch zur Natur und Struktur von Wörtern und Wortschätzen / An international handbook on the nature and structure of words and vocabularies. Vol. 2. Berlin etc.: de Gruyter. (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 21.2). 1613-1646.

 

A. Inhaltsverzeichnis

 
  1. Paradigm conceptions: History and current state
    1.1 Introduction
    1.2 The Greek and Latin tradition
    1.3 Theodosius Alexandrinus: the Kanones
    1.4 Evaluation
    1.5 Analytic forms: a modern problem
    1.6 Paradigms: the second half of the 20th century
    1.7 Are word paradigms morphological?
    1.8 The ontology of paradigms
    1.9 "Paradigm": towards a formal explication
 
  2. Orientation: Categories and forms
    2.1 Forms of words: example
    2.2 Relational category labels and category terms: example
    2.3 Functional categories: syntactic and morphological
    2.4 Form categories for simple forms
    2.5 Form categories for analytic forms
    2.6 Definition of terms vs. identification of categories
 
  3. The concept of word paradigm: Outline of an explication
    3.1 Syntactic paradigm bases: the first six components
    3.2 Syntactic paradigm bases: the seventh and eighth components
    3.3 Syntactic paradigm bases: the ninth component
    3.4 Syntactic paradigm bases: a detailed account
    3.5 Proper and improper paradigms
    3.6 "Word paradigm", "improper paradigm", "proper paradigm": definitions
    3.7 Defining "lexical word"
    3.8 Towards a general concept of paradigm
 
  4. Exemplification: English noun paradigms
    4.1 English nouns with analytic forms: a sample paradigm
    4.2 The functional Nf system
    4.3 Sets permitted by the functional system
    4.4 The structural Nf system: simple forms
    4.5 The structural Nf system: analytic forms
    4.6 The system link
    4.7 The notion of going-with: example
    4.8 The sample paradigm as a word paradigm
 
  5. Literature (a selection)
 
 

B. Zusammenfassung

 
In Abschnitt 1 werden wesentliche Paradigma-Auffassungen charakterisiert, die in der Geschichte der Sprachwissenschaft aufgetreten sind, wobei das Schwergewicht auf der griechischen und lateinischen Antike liegt sowie auf der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Der Hauptteil des Handbuchartikels gilt der detaillierten Rekonstruktion traditioneller und moderner Auffassungen des Wortparadigmas, mit einem Ausblick auf Stamm- und Affixparadigmen in der Morphologie (Abschnitt 2 und 3). Der entwickelte Rahmen für Paradigmen wird dann exemplarisch angewandt auf Nomina, insbesondere Substantive, im Modernen Englisch, wobei Paradigmen angesetzt werden, die analytische (Art + N) Formen enthalten (Abschnitt 4). Es folgt eine Bibliographie mit etwa einhundert Titeln.
Abschnitt 1 charakterisiert insbesondere die detaillierten Listen, die Theodosius Alexandrinus (4. Jhd. n. Chr.) für das griechische Verb aufgestellt hat, wobei er mit Selbstverständlichkeit analytische Formen in die Verbparadigmen einschließt — Formen, die bei modernen Paradigmenkonzeptionen Schwierigkeiten bereiten. In der gesamten Antike bis weit ins Mittelalter hinein wurden die Formen von Wortparadigmen nicht-morphologisch charakterisiert, da ein Begriff des Stammes fehlte: Auf der Formseite wählte man in einem Paradigma einige Formen als Ausgangspunkt aus und leitete von diesen alle anderen Formen nicht-morphologisch ab, unter Bezugnahme auf Unterschiede zwischen Formen, die allein die auftretenden Laute (bzw. Buchstaben) oder Silben betrafen; zugleich wurde jede Form des Paradigmas mittels grammatischer Bedeutungen charakterisiert, indem man ihr eine Menge von Funktionskategorien zuordnete, z.B. Personenkategorien oder Tempuskategorien beim Verb. Abschnitt 1 umreißt dann das weitere Schicksal dieses 'Wort- und Paradigmamodells' (WP-Modell) in der Sprachwissenschaft des zwanzigsten Jahrhunderts, mit besonderem Augenmerk auf seinem zunehmenden Einfluß in der neueren Morphologie. Es werden auftretende Probleme benannt, insbesondere die Schwierigkeit einer angemessenen Behandlung analytischer Formen.
Die folgenden Abschnitte 2 und 3 entwickeln einen Begriff des Wortparadigmas, der wesentliche Eigenschaften der Begriffe beibehält, die sich in der sprachwissenschaftlichen Tradition — bis hin zu jüngsten Aneignungen des WP-Modells — finden, der aber andererseits die Mängel dieser Begriffe vermeidet. Insbesondere werden analytische Formen der Syntax zugewiesen und folgendermaßen behandelt: Sie bestehen jeweils aus einem Hauptteil und einem nicht-leeren Auxiliar- oder Hilfsteil, und der Hauptteil besteht seinerseits aus einem Zentrum (dem Zentrum der Form) und einer — möglicherweise leeren — Peripherie. Diese Auffassung wird dann auf einfache Formen ausgedehnt, bei denen der Hilfsteil leer ist. Eine einfache Form mit leerer Peripherie ist synthetisch, d.h. ist die Einerfolge eines phonologischen Wortes (wobei ein phonologisches Wort allein durch phonologische Mittel identifizierbar sein kann, aber nicht muß). Jede Form eines Wortparadigmas, sei sie nun analytisch oder einfach, ist eine Folge von phonologischen Wörtern. Formen mit nicht-leerer Peripherie sind Formen von Wendungen; deren Formen sind sämtlich Folgen, deren Länge wenigstens 2 ist. Alle Paradigmenformen, unter Einschluß der synthetischen, sind syntaktische Einheiten, die im Satz als primitive Konstituenten auftreten, deren echte Teile also selber nicht mehr einer Konstituentenkategorie zugeordnet werden.
Jedes Wortparadigma ist eine Relation zwischen syntaktischen Einheiten (den Formen des Paradigmas) und Mengen von syntaktischen Funktionskategorien (beim englischen Verb etwa 3P, Sg, Ind, Präs usw.), anders: Jedes Wortparadigma ist eine Menge von geordneten Paaren, die jeweils aus einer syntaktischen Einheit und einer Menge von Kategorien (einer Kategorisierung der Einheit) bestehen. Diese Kategorien werden in ihrer Art genau bestimmt: Jede ist eine Menge von syntaktischen Einheiten, die einerseits charakterisiert ist mittels einer satzsemantischen Definition in der Sprachtheorie (einer Definition beispielsweise für einen Ausdruck wie "Präsens"), die aber andererseits in einer Grammatik der gegebenen Einzelsprache rein formal (oder höchstens noch wortsemantisch) identifiziert wird, d.h. die Grammatik enthält Sätze, die es ermöglichen, jede Kategorie aufgrund der formalen (eventuell noch der wortsemantischen) Eigenschaften syntaktischer Einheiten zu identifizieren.
Bei einem Form-Kategorisierungs-Paar  f, J  ist die Form f Element jeder Kategorie in der Kategorisierung J. Weiter muß es zu jedem Paradigma einen Begriff b geben derart, daß für jedes Paar  f, J  in dem Paradigma gilt: b ist eine Bedeutung von f bei J. Der Begriff b ist dann auch eine Bedeutung des Paradigmas selber.
Lexikalische Bedeutungen werden aufgefaßt als Begriffe in einem speziellen Sinn, der insbesondere auch einen 'leeren Begriff' bo zuläßt, mit dem man syntaktischen Einheiten Rechnung tragen kann, bei denen eine begriffliche Bedeutung normalerweise nicht angesetzt würde. Ferner werden 'uneigentliche Paradigmen' eingeführt durch Lockerung von Bedingungen, die für Kategorisierungen gelten, womit wir den paradigmatischen Ansatz nunmehr über seinen traditionellen Anwendungsbereich hinaus (bei 'eigentlichen' Paradigmen, z.B. englischen Verbparadigmen) ausdehnen: auf lexikalische Wörter wie etwa die englische Negationspartikel not, für die jetzt ein uneigentliches Paradigma angesetzt werden kann.
Wortparadigmen sind Relationen zwischen syntaktischen Einheiten und Mengen von syntaktischen Kategorien, die selber Mengen von syntaktischen Einheiten sind. Wortparadigmen gehören somit in die Syntax und nicht in die Morphologie, anders als Stammparadigmen und, falls man sie zuläßt, Affixparadigmen, die in der Tat morphologisch sind. Solche morphologischen Paradigmen werden kurz ins Auge gefaßt, aber nicht weiter erörtert.
"Wortparadigma" wird unabhängig von "lexikalisches Wort" definiert. Dies erlaubt es, "lexikalisches Wort" seinerseits mit Hilfe von "Wortparadigma" zu definieren. Eine entsprechende Definition wird vorgeschlagen.
Jeder sprachwissenschaftliche Ansatz, der Begriffe des Wortparadigmas verwendet, muß sich mit der Frage auseinandersetzen, wie denn Wortparadigmen in einer Sprache (in den Systemen ihrer Idiolekte) gegeben sind. Die vorgeschlagene Antwort lautet: Wortparadigmen eines bestimmten Typs, z.B. Paradigmen von Nomina, ergeben sich aufgrund einer 'syntaktischen Paradigmenbasis'. Eine solche Basis ist ein Neuntupel, dessen Komponenten sind:
  1. eine Grundmenge M, eine (eigentliche oder uneigentliche) Teilmenge einer der einfachen syntaktischen Konstituentenkategorien Nomenform, Verbform und Partikelform;
  2. eine Funktion R1 — die Hauptteilfunktion —, die jeder Form in der Grundmenge ihren Hauptteil zuordnet;
  3. eine Funktion R2 — die Zentrumsfunktion —, die jeder Form in der Grundmenge ihr Zentrum zuordnet;
  4. ein Klassifikationssystem O1 auf der Grundmenge — das strukturelle System —, das syntaktische Formkategorien liefert, im Englischen z.B. 'einfache Verbform mit s-Suffix' (O1 kann auch leer sein);
  5. ein zweites Klassifikationssystem auf der Grundmenge — das funktionale System —, das syntaktische Funktionskategorien liefert, im Englischen etwa 3P oder Präs (auch O2 kann leer sein);
  6. eine zweistellige Relation R3 — die Systemverbindung —, welche Mengen von Formkategorien mit Mengen von Funktionskategorien in Verbindung setzt;
  7. die Basis der Stammzuschreibung N und
  8. die Stammzuschreibung R4: diese beiden Komponenten werden benötigt, um die richtigen Form-Kategorisierungs-Paare als Elemente desselben Paradigmas zusammenzustellen; und
  9. eine Relation R5 — die Bedeutungsrelation —, welche Begriffe b zu Formen f und ihren Kategorisierungen J in Beziehung setzt, eine Relation, mit deren Hilfe der Forderung Genüge getan werden kann, daß alle Paare  f, J  in einem Paradigma 'bedeutungsgleich' sein müssen.
Abschnitt 4 schließlich erläutert diese Konzeption am Beispiel durch Anwendung auf das englische Nomen, insbesondere das englische Substantiv. Für substantivische Paradigmen im Modernen Englisch wird angenommen, daß sie sowohl einfache Formen haben, die synthetisch sein können (aber nicht müssen): die Einerfolgen von door und doors; sowie analytische Formen: a door, the door, the doors, some door, some doors, any door, any doors, no door, no doors (die auftretenden phonologischen Wörter a, the, some, any und no sind sämtlich 'inhärent unbetont'). Kein echter Teil einer analytischen Form ist im Satz eine Konstituente: Damit verschwindet das NP/DP-Problem für Formen wie the doors, die als ganze der Konstituentenkategorie Nomenform zugeschrieben werden, ohne Zuschreibung irgendeines echten Teils zu einer Konstituentenkategorie: Weder der the-Teil noch der doors-Teil von the doors ist Nukleus ('Kopf') von the doors; vielmehr ist die analytische Form the doors Nukleus von sich selber.
Die vorgeschlagene Konzeption von Wortparadigmen wird in Abschnitt 4 am Beispiel erläutert, indem die Paradigmenbasis für englische Nomina skizziert und als Grundlage benutzt wird, um ein substantivisches Beispielparadigma vollständig aufzustellen.