Hans-Heinrich Lieb
Integrative
Sprachwissenschaft: Entwicklung und Aktualität
(1964 – 2018)
© 2018 Hans-Heinrich Lieb
1. Erster
Entwicklungsabschnitt (1964 bis 1970)
Ursprünge und frühe Arbeiten
1.1 Themen
Die Integrative Sprachwissenschaft (Integrational Linguistics, IL) ist ein
sprachwissenschaftlicher Ansatz, der aus Arbeiten von Hans-Heinrich Lieb – seit
1964 – hervorgegangen ist. Der Name
"Integrational
Linguistics" ist für diesen Ansatz in Veröffentlichungen seit 1977 in
Gebrauch (Lieb 1977e), offenbar früher als derselbe Ausdruck als Name für
einen ganz anderen Ansatz, der auf Roy Harris zurückgeht.
Die
Integrative Sprachwissenschaft war nicht-generativ von Anfang an und befand
sich damit jahrzehntelang außerhalb der sprachwissenschaftlichen Hauptströmung.
Der
vorliegende Abriß kennzeichnet die Entwicklung der Integrativen Sprachwissenschaft,
ohne dabei einen Überblick über alle Arbeiten – oder auch nur die wichtigsten
Arbeiten – zu geben, die im Rahmen dieses Ansatzes oder unter seinem Einfluß entstanden
sind; ebensowenig will der Abriß dem
Gesamtwerk einzelner Autoren gerecht werden. Der Umfang des Abrisses soll sich
in vernünftigen Grenzen halten; deshalb bleibt insbesondere der von Peter
Eisenberg und seinen Schülern repräsentierte Zweig der Integrativen Sprachwissenschaft
weitgehend außer Betracht, trotz seiner Bedeutung vor allem für Untersuchungen zur
Phonologie und Morphologie und zu geschriebener Sprache. Auf Arbeiten von Lieb
liegt besonderes Gewicht, weil er der Urheber des Ansatzes ist.
Liebs
Arbeit
an dem Ansatz begann nach Abschluß seiner Doktorarbeit zum Begriff der
Metapher, die noch nicht in den Ansatz gehört (Lieb 1964), und erreichte
ihren ersten Höhepunkt mit Lieb (1970c). Die Arbeit galt
der Entwicklung eines Teils einer allgemeinen Sprachtheorie, eines Teils,
dessen Schwerpunkt die sprachinterne Variabilität ist, insbesondere die
Variabilität in der Zeit. Die Theorie in Lieb (1970c) expliziert
Synchronie-Diachronie-Konzeptionen, wobei die Sprachtheorie und ihre Teile in
eine Kommunikationstheorie eingebettet werden; um für die konzeptuelle Analyse
maximale Präzision sicherzustellen, wird die axiomatische Methode angewendet.
Sowohl die Sprachtheorie als auch die Kommunikationstheorie sind als empirische
Theorien konzipiert, und die Kommunikationstheorie, obwohl unvollständig, ist
weit über die Sprachwissenschaft hinaus anwendbar (ein Grund hierfür ist Liebs
lebenslanges Interesse an einer allgemeinen Literaturtheorie, das sich bereits
während seiner ursprünglichen Ausbildung in Philosophie und als Philologe – mit
einem literaturwissenschaftlichen Schwerpunkt – entwickelte).
Die
nicht-zeitlichen Dimensionen der Sprachvariabilität wurden erst später
systematisch einbezogen, in Lieb (1993g), in gewisser Weise
eine Vervollständigung der früheren Arbeit.
Zusammengefaßt: In diesem Entwicklungsabschnitt wurde schwerpunktmäßig die
Sprachvariabilität behandelt; dies erfolgte im Rahmen einer
Kommunikationstheorie; zur Anwendung kam die axiomatische Methode; und der
empirische Charakter der Sprachwissenschaft wurde nachdrücklich betont – all
dies machte Liebs Arbeiten unvereinbar mit der seinerzeitigen generativen Hauptströmung
in der Sprachwissenschaft, in der unter anderem sprachliche Variabilität
programmatisch vernachlässigt wurde.
Für
Lieb war eine solche Vernachlässigung inakzeptabel, allein schon wegen seiner
Ausbildung als Philologe und später als Strukturalist, der nach Abschluss
seiner Promotion bei Hans-Jakob Seiler arbeitete, zunächst schwerpunktmäßig zu
Fragen, die den wissenschaftstheoretischen Status der Sprachwissenschaft
betrafen, mit kritischer Würdigung von Chomskys frühen Arbeiten (Lieb
1968a, auch Lieb 1967b, 1970b). Die Hauptarbeit galt der
Entwicklung eines eigenen sprachwissenschaftlichen Rahmens für die Erfassung
von Sprachvariabilität.
1.2 Aktualität
Die Arbeiten während des Ersten Entwicklungsabschnitts haben bis heute nichts von ihrer Wichtigkeit für die Integrative Sprachwissenschaft verloren. Ihre Bedeutung geht jedoch darüber hinaus, und zwar wenigstens in den folgenden Punkten:
i. | Lieb (1970c) umreißt einen Teil einer allgemeinen Sprachtheorie in kommunikativem Rahmen und liefert damit ein frühes Beispiel für einen Realismus-Ansatz in der Sprachwissenschaft: Die Arbeit stellt eine spezielle Form von sprachwissenschaftlichem Realismus dar, wie er gegenwärtig wieder in dem Essayband Brehme & Neef (2018) vertreten wird. Insbesondere enthält Lieb (1970c: Kap. 10 und 11) eine detaillierte Argumentation für eine umfassende Konzeption natürlicher Sprachen, deren Grundlage Kommunikation ist, die dabei aber auch den physiologischen und neurologischen Aspekten natürlicher Sprachen Rechnung trägt, ohne die Gegenstände der Sprachwissenschaft mit relevanten Gehirnmechanismen zu identifizieren. Angesichts jüngster Fortschritte bei der Identifikation solcher Mechanismen hat diese Argumentation an Gewicht noch gewonnen. |
ii. | Lieb (1967b) ist ein früher Versuch, Teile von generativ-transformationellen Grammatiken realistisch – im Sinne des sprachwissenschaftlichen Realismus – zu interpretieren. Trotz seiner Kürze wird dieser Aufsatz gegenwärtig stark beachtet (mehr als nach seiner Erstveröffentlichung), wie aus häufigen Anfragen auf Research Gate hervorgeht. In anderem Zusammenhang lässt sich eine Verwandtschaft feststellen zwischen Konzeptionen von ‚gewichteten Beschränkungen‘ (weighted constraints) in ‚deklarativen‘ Grammatiken wie HPSG-Grammatiken einerseits und andererseits Vorschlägen in Lieb (1970b) für die Behandlung sprachlicher Abweichung, die für solche Konzeptionen durchaus nützlich sein könnten. |
iii. | Mit der möglichen Ausnahme von Arbeiten in der Computerlinguistik stellt Lieb (1970c) weiterhin die umfangreichste Anwendung der axiomatischen Methode dar, die in der Sprachwissenschaft existiert: eine Anwendung, die – mit nicht-trivialen Beweisen – den konzeptuellen Kern einer allgemeinen Sprachtheorie teilweise zu klären sucht, wobei alternative Lösungen für konzeptuelle Probleme ausdrücklich diskutiert und bewertet werden. (Das Buch ist das Ergebnis von etwa zehntausend Stunden Arbeit über einen Zeitraum von fünf Jahren. Die Beweise könnten nunmehr überprüft werden mit Hilfe von Computerprogrammen, wie sie seinerzeit noch nicht zur Verfügung standen.) |
iv. | Der Schlüsselbegriff „Verständigungskomplex“ („communication complex“), wie er in Lieb (1970c) definiert wird, ist anwendbar auf natürliche Sprachen – verstanden als historische Sprachen – und ihre Ausprägungen (Varietäten): ist anwendbar grundsätzlich auf beliebige Mengen von ‚Verständigungsmitteln‘, insbesondere Mengen von Idiolekten, und gestattet es, Gruppen von Sprachen oder Sprachausprägungen als Verständigungskomplexe oder auch als Mengen solcher Komplexe zu kennzeichnen. Der Terminus „sprachlicher Verständigungskomplex“ bzw. „linguistic communication complex“ kann deshalb das aktuelle „languoid“ ersetzen, ohne dessen Vagheit zu teilen. |
v. | Die Sprachtheorie, deren Kern in Lieb (1970c) teilweise entwickelt wird, ist in radikaler Weise sprecher- und gebrauchsorientiert: Sprachliche Veränderungen werden bezogen auf Veränderungen bei einzelnen Sprechern und auf ihre sprachlichen Aktivitäten, wobei – in der Theorie – sämtliche in Frage kommenden Sprecher und Aktivitäten einbezogen werden. Für eine direkte Anwendung der Theorie müssen deshalb sehr große Datenmengen zur Verfügung stehen, eine kaum erfüllbare Bedingung zu der Zeit, als die Theorie entwickelt wurde. Seitdem hat sich die Lage dramatisch verändert; über das Internet oder in Form riesiger Sprachcorpora ist nunmehr eine nahezu grenzenlose Fülle sprachlicher Daten direkt oder indirekt verfügbar. Dies dürfte nun, anders als zur Entwicklungstzeit der Theorie, ihre sinnvolle Verwendung in der aktuellen sprachwissenschaftlichen Forschung ermöglichen, ja selbst außerhalb der Sprachwissenschaft. |
Allerdings läßt Lieb (1970c) eine wichtige Lücke
offen: Sprachliche Variabilität wurde noch nicht im Hinblick auf die einzelnen
Komponenten eines Sprachsystems behandelt;
erst zu einem späteren Zeitpunkt sollten Sprachsysteme in die Betrachtung
einbezogen werden. Dieser Schritt erfolte im Zweiten Entwicklungsabschnitt der
Integrativen Sprachwissenschaft.
2.
Zweiter Entwicklungsabschnitt (1971 bis 1983)
Theorie axiomatischer Grammatiken, Sprachsystemtheorie, Arbeiten zum
Deutschen
2.1
Organisation und Themen
Nach seiner Berufung im Jahre 1971
als Ordentlicher Professor für Allgemeine und Deutsche Sprachwissenschaft
(formal für Deutsche Philologie) an der Freien Universität Berlin begann Lieb
damit, die Lücken in seiner bisherigen Forschung zu schließen.
Die wissenschaftstheoretische
Stellung von Universalienforschung – eng verbunden mit der Entwicklung einer
allgemeinen Sprachtheorie – wurde weiter geklärt (Lieb 1975c, 1978c).
Zur Erfassung des Systemaspekts von
Sprachen untersuchte Lieb die Beschreibung dieses Aspekts in formalen
Grammatiken und entwickelte in einem ersten größeren Schritt eine Theorie
axiomatischer Grammatiken, nach der eine Grammatik auf einer
allgemeinen Sprachtheorie beruht; die Theorie wurde in zwei Aufsätzen von
Buchlänge veröffentlicht (Lieb 1974a und Lieb 1976c). Diese
Grammatiktheorie stand in vollem Gegensatz zu den Grammatikkonzeptionen der
Generativen Grammatik, dem sprachwissenschaftlichen Ansatz, der sich auf den
meisten Gebieten der Sprachwissenschaft rasch zur Hauptströmung entwickelte.
Weiterhin stellte Lieb, wiederum im Widerspruch zur generativen Hauptströmung, die
Sprachwissenschaft in ein Netz miteinander verwandter Wissenschaften, wobei die
Sprachwissenschaft weder reduktiv als Zweig der Psychologie oder der Biologie aufgefaßt
wird; allein die Semiotik, recht verstanden, gilt als letzte Elternwissenschaft.
Sehr bald zeigte sich bei der
Arbeit an der Grammatiktheorie, daß die Sprachtheorie in ihrem Sprachsystemteil
am besten unabhängig zu entwickeln war, nicht in dienender Funktion für die
Grammatiktheorie.
Insbesondere erwies es sich als
notwendig, eine allgemeine Morphosyntax zu entwickeln, und zwar als Teil einer Theorie
sprachlicher Systeme, die auf einer Theorie der Sprachvariabilität aufbaut.
Bald nach seiner Arbeitsaufnahme
an der Freien Universität Berlin organisierte Lieb deshalb eine Forschergruppe,
bestehend aus Kollegen, Assistenten und fortgeschrittenen Studenten, mit dem
Zweck, die Morphosyntax des Deutschen im Hinblick auf ihre sprachspezifischen sowie
ihre allgemeinsprachlichen Eigenschaften zu untersuchen; die Gruppe war aktiv
bis 1982 (zu einigen der Mitglieder s.u. § 2.2).
Gleichzeitig mit der Arbeit der
Gruppe und mit seiner eigenen Arbeit zur Morphosyntax begann Lieb mit der
Entwicklung eines konzeptuellen Rahmens für die lexikalische und die
Satzsemantik: In diesem Rahmen sollten sich drei Haupttraditionen der
Semantik verbinden, Realismus, Konzeptualismus und Bedeutung als Gebrauch
(einschließlich Sprechakttheorie), die ersten beiden als grundlegend für die
lexikalische Semantik, die dritte für die Satzsemantik. Dabei sollten semantische
Beschreibungen den Anforderungen an formale Theorien genügen.
Dieser Ansatz erwies sich als
querstehend zu den Hauptentwicklungslinien auf dem Gebiet der Semantik. Einerseits
waren formale Arbeiten in der Semantik – eine Zeitlang im Anschluß an Montague
– vollständig realistisch, unter Ausschluß der konzeptualistischen Tradition, mit
einem Versuch, ‚pragmatischen‘ Faktoren wie Sprecherreferenz mit realistischen
Mitteln Rechnung zu tragen. Andererseits richtete sich Kritik an dieser
Entwicklung typischerweise gegen formale Semantik überhaupt.
Während des Zweiten
Entwicklungsabschnitts war bei Lieb ein weiteres Haupt-Forschungsthema die
Satzintonation: Entwicklung einer Konzeption zu ihrer Erfassung, sowohl formal
als auch unter semantisch-pragmatischem Gesichtspunkt. Zur anfänglichen
Orientierung diente dabei eine großangelegte, nicht vollständig durchgeführte
Untersuchung der deutschen Satzintonation, deren umfangreiche Ergebnisse bisher
nicht veröffentlicht wurden, deren Publikation aber – trotz zwischenzeitlicher
Entwicklungen – immer noch relevant sein dürfte. Die Konzeption, die sich in
mancher Hinsicht mit den bekannten, gleichzeitig entstandenen Arbeiten von
Pierrehumbert berührt, wurde anschließend in Lieb (1983a) angewandt
und in Lieb (1983b) integriert.
2.2 Aktualität
Während des Zweiten Entwicklungsabschnitts
entstand eine große Anzahl von Publikationen verschiedener Autoren (vgl. die
Gesamtbibliographie, die Teil der Homepage ist). Als die bedeutsamsten erwiesen
sich Lieb
(1983b) und Eisenberg (1986).
(Man vergleiche aber auch Lutzeier
1981, den Ausgangspunkt für die späteren lexikologischen Arbeiten dieses
Autors; diese führten aus dem IL-Rahmen schließlich heraus.)
Das umfangreiche Werk Lieb (1983b),
eine Monographie von mehr als 500 Seiten, umreißt den konzeptuellen Kern einer Theorie
der sprachlichen Systeme (kurz: Sprachsystemtheorie). Dabei werden
abgedeckt: Morphologie, Syntax (mit einer Kombination aus Item-and-Arrangement
und Wort-und-Paradigma), Lexikalische Semantik und Satzsemantik. Die Theorie
trägt indirekt auch Hauptgebieten der Pragmatik in einem traditionellen Sinne
Rechnung: Erstens verwendet sie eine ‚pragmatische‘ Konzeption von
Satzbedeutung, zweitens bezieht sie sprachliche Systeme direkt auf Sprecher und
Äußerungen, und drittens erfaßt sie interne und externe sprachliche Variabilität,
indem sie Idiolekte und ihre Systeme als allgemeinen Ausgangspunkt für
sprachliche Systeme wählt. Nur zwei
traditionelle Gebiete der Sprachwissenschaft sind in dem Buch weitgehend
unerfaßt, wenn auch grundsätzlich berücksichtigt: segmentale Phonologie und
Wortbildung.
Als zweites Hauptthema wird in Lieb (1983b)
die Konzeption axiomatischer Grammatiken weiterentwickelt und zugänglicher
dargestellt als in Lieb (1974a) und (1976c).
Lieb (1983b)
hat sich als grundlegend erwiesen für den Großteil aller späteren Arbeiten im
Rahmen der Integrativen Sprachwissenschaft. Trotz Weiterentwicklungen ist dieses
Werk nur in Teilen überholt – auch außerhalb der IL, wie sich zeigen ließe.
Eisenbergs Grundriß der deutschen Grammatik, in einem Band 1986 erschienen,
später mehrmals in zwei Bänden und stark erweitert (Der Satz und Das Wort; 4.
Aufl. 2013), entwickelte sich zu einer der erfolgreichsten und
weitestverbreiteten Grammatiken des modernen Deutsch. Eisenberg war Mitglied
der von Lieb gegründeten Forschungsgruppe und verwendete zunächst den
theoretischen Rahmen, der während des Zweiten Entwicklungsabschnitts in der
Integrativen Sprachwissenschaft entwickelt wurde; in späteren Auflagen hat er
ihn dann verschiedentlich modifiziert.
In der Folge blieben die Arbeiten von
Eisenberg und seinen Schülern zwar grundsätzlich integrativ, entfernten sich
jedoch stärker von der IL-Version, die Lieb nach und nach weiter ausarbeitete.
3. Dritter Entwicklungsabschnitt (1984 bis 1991)
Fortführung. ‘Neuer Strukturalismus’
(‘New Structuralism’)
3.1
Organisation und Themen
Die Arbeiten während des Dritten
Entwicklungsabschnitts – zum Teil erst 1992 und 1993 veröffentlicht – waren thematisch
vielfältiger als die Arbeiten in den ersten beiden Abschnitten, aber einige
Schlüsselthemen treten dennoch hervor.
Lieb konzentrierte sich auf die
Aufgabe, die Integrative Sprachwissenschaft einzuordnen in die
Sprachwissenschaft als ganze. Dabei stellte er sich entschieden gegen die
seinerzeitige generative Hauptströmung mit einer ins einzelne gehenden Analyse,
welche die Grundlagen der Hauptströmung
in Frage stellte, und argumentierte für einen ‚Neuen Strukturalismus‘ („neu“ im
Sinne von „stark revidiert“) als Alternative (Lieb 1987, auf Deutsch).
Prominente Sprachwissenschaftler waren interessiert und veröffentlichten
schließlich Beiträge zu einem Sammelband (englisch), der die Alternative
entwickelte (Lieb 1992g) und auch einen auf Lieb (1987)
fußenden Essay enthielt (Lieb 1992f).
Einen zweiten Hauptgegenstand der
Arbeit von Lieb bildete die Organisation einer kleinen Forschergruppe, an der
er selber wesentlich mitwirkte, zur empirischen Erforschung von Satzintonation;
der theoretische Rahmen, den Lieb entwickelt hatte, bildete den Hintergrund,
und die seinerzeit verfügbaren – noch schwerfälligen – Computermittel kamen zum
Einsatz (Ergebnisse in Lieb 1988c).
Ein drittes Hauptthema der Arbeit
von Lieb war die Weiterentwicklung der Sprachsystemtheorie in ihrem morphosyntaktischen
Teil:
Lieb (1992d) enthält die erste (eigenständige) Formalisierung des Wort-und-Paradigma-Modells nach Matthews; und Lieb (1993a)
bringt eine Zusammenfassung und
teilweise Formalisierung der Integrativen
Syntax auf dem seinerzeit erreichten Stand.
Ebenso wurden in diesem
Entwicklungsabschnitt wichtige Arbeiten in der Semantik fertiggestellt.
Der semantische Teil der Integrativen Sprachsystemtheorie wurde in Lieb (1992c)
zusammengefaßt; zwei Bücher erschienen zu Hauptthemen: Indexikalität (Richter
1988) und Semantik der Nominalgruppe und Ereignissemantik (Moltmann
1992).
Zu anderen Arbeiten während des
Dritten Entwicklungsabschnitts vergleiche man die Gesamtbibliographie auf der
vorliegenden Homepage (zu Eisenberg 1986 siehe oben, § 2.2).
3.2 Aktualität
Im Rückblick erweist sich der ‚Neue
Strukturalismus‘ als eine von wenigstens vier Entwicklungen in der
Sprachwissenschaft, die sich seither gegen den generativen Hauptstrom mit
seinen Nebenflüssen und Bächen gerichtet haben; die anderen drei sind der
‚sprachwissenschaftliche Realismus‘, zunächst vorgeschlagen und vertreten von
Katz, die Konstruktionsgrammatik, eingeführt hauptsächlich durch Fillmore
(seinerseits eine Wiederaufnahme des Strukturalismus in der
Sprachwissenschaft), und in der Computerlinguistik und darüber hinaus eine Richtungsänderung,
weg von generativ-aufzählenden Grammatiken, hin zu ‚deklarativen‘
Beschränkungsgrammatiken. Die letzten beiden Entwicklungen erwiesen sich als weit
erfolgreicher als der ‚Neue Strukturalismus‘ und der ‚Realismus‘, aus Gründen,
die hier unerörtert bleiben mögen. Jedoch kann nunmehr der ‚Modifizierte
Realismus‘, wie ihn Lieb charakterisiert,
als ein Ansatz gelten, in dem ‚Neuer Strukturalismus‘ und ‚Realismus‘ in
gewisser Weise verschmelzen, und es läßt sich sehr wohl argumentieren (vgl. Lieb
2018),
daß der Modifizierte Realismus die Vorzüge konstruktionsgrammatischer Ansätze
und deklarativer Beschränkungsgrammatiken miteinander verbindet ohne die
jeweiligen Nachteile. Damit ist der Modifizierte Realismus aktuell für
die gegenwärtige Sprachwissenschaft.
Die
Ergebnisse der Intonationsforschungen müssen neu eingeschätzt werden. Sie sind
anders orientiert als rein physikalische Ansätze: (i) Priorität haben auditive
Eigenschaften des Sprachsignals, (ii) diese werden werden unter Rückgriff auf artikulatorische
Eigenschaften gekennzeichnet, (iii) sie werden mit akustischen Eigenschaften
korreliert. Ferner werden – anders als in der Autosegmentalen Phonologie – Tonhöhenverläufe
stückweise auf einzelne Silben bezogen. In diesem Rahmen wurden dann Methoden
der phonetischen Feinanalyse entwickelt.
Die
Arbeiten zur Morphosyntax sind für die Integrative Sprachwissenschaft lange
grundlegend geblieben; erst in jüngster Zeit werden allmählich Modifikationen
erwogen. Jedoch haben Lieb und Nolda in ihren jüngeren Arbeiten größere
Änderungen bei der Behandlung von Morphologie und Wortbildung vorgenommen (s.u.
§ 5.1.3, Zu (iii)). Diese Änderungen berühren auch das klassische integrative
Wort-und-Paradigma-Modell, das im übrigen durch die inzwischen vorgelegten
Modelle von Stump und Blevins keineswegs überholt ist.
Die
semantische
Theorie, die in Lieb (1983b) entwickelt und
durch die Arbeiten zur Semantik im Dritten Entwicklungsabschnitt weitergeführt wurde,
hat aus mehreren Gründen an Relevanz noch gewonnen: Die Hauptströmung in der
formalen Semantik, ‚(semantischer) Realismus‘, schwächt sich ab und läßt damit Raum
für formale Theorien eines umfassenderen Typs; die Tradition des
‚Konzeptualismus‘ in der Semantik erhält neues Gewicht durch indirekt relevante
Ergebnisse, die mittels bildgebender Verfahren für das Gehirn oder durch
Nervenstimulation gewonnen werden; bei ‚Bedeutung-als-Gebrauch‘ wird eine
bestimmte Richtung wieder zunehmend interessant in Form der ‚distributionellen
Semantik‘; und in der ‚gebrauchsbasierten Linguistik‘ rücken
Äußerungsbedeutungen in den Mittelpunkt zusätzlich zu Satzbedeutungen. Was
jedoch fehlt, ist ein integrierender Ansatz, und hierfür bietet sich die
Integrative Semantik an.
4. Vierter Entwicklungsabschnitt
(1992 – 2003)
Ausarbeitung
der Sprachsystemtheorie, Weiterentwicklung
und Anwendungen des Ansatzes
4.1
Organisation und Themen
4.1.1 Das Berliner Forschungskolloquium Integrative
Sprachwissenschaft
Ende 1991 traf Lieb eine
Organisationsentscheidung, die sich als die wichtigste für den Vierten
Entwicklungsabschnitt erwies: Er bildete wiederum eine Forschergruppe, unter
dem Namen Berliner Forschungskolloquium Integrative Sprachwissenschaft.
Die Gruppe traf sich einmal wöchentlich im Semester. Sie war elf Jahre lang
tätig, vom Wintersemester 1991/92 bis zum Sommersemester 2003, bis zur
Emeritierung von Lieb. In dieser Zeit widmete Lieb seine wissenschaftliche
Arbeit ganz überwiegend seinen Beiträgen zu dem Kolloquium, unter bewußtem
Verzicht auf die Veröffentlichung von Zeitschriftenaufsätzen.
Ziel
der Forschergruppe war die Weiterentwicklung der Integrativen Sprachsystemtheorie
(Theorie sprachlicher Systeme – Integrational Theory of Linguistic Systems,
ITLS) als Teil einer allgemeinen
Sprachtheorie, mit dem Arbeitsschwerpunkt Syntax und Semantik; gegen Ende der
Forschungstätigkeit wurden auch Fragen der sprachwissenschaftlichen
Methodologie einbezogen. Jede Sitzung wurde in bestimmter Weise protokolliert,
bereits im Hinblick auf eine spätere Publikation.
Die
Sitzungsprotokolle sind nunmehr (2017) in ihrer Gesamtheit online
veröffentlicht worden, als Reihe in zweiundzwanzig Teilen im Umfang von nahezu
zweitausend Seiten, auf Deutsch, aber mit detaillierten Herausgebertexten auf
Englisch einschließlich Zusammenfassungen: „Linguistic research in progress“ (Lieb
ed. 2017).
Die
Themen,
die in einem oder in mehreren Semestern jeweils behandelt wurden, ergeben sich
aus der folgenden Liste von Links:
I. Linguistic research in progress (Part I) – Acknowledgements. Editor’s introduction
II. Noun Group problems I – Probleme der Nominalgruppe I
III. Noun Group Problems II – Probleme der Nominalgruppe II
IV. Noun Group Problems III – Probleme der Nominalgruppe III
V. The semantics of German nominal expressions – Semantik der deutschen
Nominale
VI. Relative clauses I – Relativsätze I
VII. Relative clauses II – Relativsätze II
VIII. Valence and Government I – Valenz und Rektion I
IX. Valence and Government II – Valenz und Rektion II
X. Agreement I – Kongruenz I
XI. Agreement II / Ellipsis I – Kongruenz II / Ellipse I
XII. Ellipsis in coordination (Ellipsis II) – Ellipse bei Koordination
(Ellipse II)
XIII. Speech acts: the Integrational account I – Der Sprechaktaspekt der
Integrativen Sprachtheorie I
XIV. Speech acts, integrational II: sentence types and sentences – Der
Sprechaktaspekt II: Satzarten und Sätze
XV. Speech acts, integrational III – sentence types, directive part, and
speech act types. Der Sprechaktaspekt III – Satzarten, Bedeutungsrichtung und
Sprechakttypen
XVI. Integrational Morphology – basic problems I. Grundprobleme der
Integrativen Morphologie I
XVII. Integrational Morphology – basic problems II. Grundprobleme der
Integrativen Morphologie II
XVIII. Integrational Morphology – basic problems III. Grundprobleme der
Integrativen Morphologie III
XIX. Syntactic methodology – an Integrational account I. Integrative
Methodologie mit besonderem Bezug auf die Syntax I
XX. Syntactic methodology – an Integrational account II. Integrative
Methodologie mit besonderem Bezug auf die Syntax II
XXI. Linguistic research in progress (Part XXI) – Tables of Contents and
Subjects. Inhalts- und Themenverzeichnisse
XXII. Linguistic research in progress (Part XXII) – Comprehensive Index of
Terms. Stichwort-Gesamtverzeichnis
4.1.2 Andere
Arbeiten (1): Vervollständigung des Integrativen Ansatzes
Zusätzlich zu der Arbeit im
Kolloquium wurde die Integrative Sprachtheorie weiterentwickelt durch Arbeiten,
meist in Buchform, verschiedener Autoren, insbesondere:
4.1.3 Andere
Arbeiten (2): Anwendungen und Erweiterungen des Integrativen Ansatzes
Im Folgenden sind nur größere
Arbeiten aufgeführt, einige nach 2003 veröffentlicht:
4.1.4 Verwandte
Arbeiten
(1): Sprachdokumentation
Von 2000 bis 2005 wurde eine weitere
von Lieb geleitete Forschergruppe mit Drude als Hauptforscher von der
Volkswagenstiftung im Rahmen ihres DoBeS-Programms finanziert, eines bekannten
großangelegten Programms zur Dokumentation bedrohter Sprachen, das erst
kürzlich ausgelaufen ist. Ziel der Forschergruppe war die Dokumentation des Awetí,
einer indigenen südamerikanischen Sprache der Tupí-Familie: Drude
et al. (2006).
Die Dokumentation war u.a. als Vorstufe gedacht für eine IL-Analyse dieser
Sprache, deren Anfänge in mehreren Aufsätzen von Drude vorliegen (man
vergleiche die Gesamtbibliographie der Homepage). Im Rahmen dieser
Forschergruppe entwarfen Lieb und Drude unter anderem ein IL-inspiriertes
Dokumentationsformat, ‘Advanced Glossing’: Lieb/Drude
(2000).
4.1.5 Verwandte
Arbeiten (2): Glossierungssysteme für Baum-Datenbanken
Im Jahre 2003 legte eine Gruppe von Wissenschaftlern,
zu denen Peter Eisenberg gehörte, das
Glossierungssystem für die Baum-Datenbank vor, an der seit 1999 im
Rahmen des von mehreren Universitäten getragenen Projektes TIGER (TIGER Corpus. http://www.ims.uni-stuttgart.de/forschung/ressourcen/korpora/tiger.html)
gearbeitet wurde und bis heute gearbeitet wird. Zweck
des Projektes ist die halbautomatische morphosyntaktische Analyse eines
umfangreichen Korpus deutschsprachiger Zeitungstexte. Das Glossierungssystem
ist wesentlich beeinflußt von Eisenberg (1998/1999) und damit von
der Integrativen Morphosyntax in der bei Eisenberg vorliegenden Form (vgl. den
Link zu „annotation page“ auf der Projektseite).
4.2 Aktualität
Was in den Protokollen des Berliner
Forschungskolloquiums Integrative Sprachwissenschaft dokumentiert wird,
ist die Arbeit an grundlegenden konzeptuellen Problemen, die eine
Sprachsystemtheorie als Teil einer allgemeinen Sprachtheorie zu lösen hat. Die
Protokolle sind einzigartig sowohl, was die Anzahl der behandelten Themen
betrifft, als auch durch die Art der Dokumentation, bei der nicht nur
Ergebnisse wiedergegeben werden, sondern auch ihr Zustandekommen.
In
dem Herausgebertext für die Protokolle eines einzelnen Semesters wird u.a.
gezeigt, welche Relevanz die Ergebnisse für die aktuelle sprachwissenschaftliche
Forschung haben. Für die Integrative Sprachwissenschaft selber sind die
Protokolle erst teilweise ausgewertet, und ihre Rezeption in der
Sprachwissenschaft allgemein steht noch bevor.
Die
in den §§ 4.1.2 bis 4.1.3 genannten Arbeiten haben sämtlich die
Weiterentwicklung der Integrativen Sprachwissenschaft beeinflußt (die Arbeit
von Peters indirekt, indem sie die integrative Sprechaktkonzeption stützte).
Wenigstens die folgenden vier Arbeiten können als besonders relevant gelten:
i. | Lieb (1993g) entwickelt einen Rahmen für die Behandlung von Sprachvariabilität, der klassifikatorisch, aber umfassend ist; er kann in Verbindung mit statistisch arbeitenden Ansätzen genutzt werden, die weniger umfassend sind. |
ii. | Budde (2000a) ist weiterhin die umfassendste und detaillierteste allgemeine Theorie der Wortarten und bleibt allen Konkurrenten überlegen. (Die Veröffentlichung auf Deutsch und auf Microfiche hat allerdings eine weitergehende Rezeption bisher verhindert.) |
iii. | Eisenberg (1998/1999) ist in seinen späteren, überarbeiteten Ausgaben bis heute ein Meilenstein in der grammatischen Beschreibung des Modernen Standarddeutsch. |
iv. | Sackmann (2000) und (2004) behandelt das Chinesische mit bedeutenden Einsichten und widerlegt insbesondere den traditionellen Glaubenssatz, Sprachen wie das Chinesische seien unzugänglich für einen Wort-und-Paradigma-Ansatz. |
v. | Drude (2004) wendet eine Wort-und-Paradigma-Konzeption, die Morphologie und Syntax berücksichtigt, auf die Lexikographie an und interpretiert systematisch die lexikographische Terminologie; die Arbeit konkretisiert ihren Ansatz, indem sie einen nicht-trivialen Teil eines Lexikons für das Guaraní entwickelt, für eine Sprache eines Typs, dessen lexikographische Probleme selten in Betracht gezogen werden. |
vi. | Das in Lieb und Drude (2000) vorgelegte Annotationsformat erwies sich zunächst als zu anspruchsvoll für die seinerzeitigen Zwecke der Sprachdokumentation. Es sollte jedoch für die heutigen, komplexeren Dokumentationsziele neu in Erwägung gezogen werden; das Format dürfte unmittelbar hilfreich sein für Annotationsarbeiten, wie sie gegenwärtig von Autoren wie Volker Gast unternommen werden. |
vii. | Ebenso zeigt die Integrative Morphosyntax ihre praktische Bedeutung und theoretische Angemessenheit durch den Nutzen, den Eisenbergs Version bei Entwicklung der TIGER-Datenbank hatte. |
5.
Fünftes Entwicklungsstadium (2004 – 2013)
Anwendungen,
Wortbildungstheorie
5.1 Organisation
und Themen
5.1.1 Allgemeines
Frühere Teilnehmer am Berliner
Kolloquium Integrative Sprachwissenschaft trafen sich auch in diesem Entwicklungssabschnitt,
wenn auch unregelmäßig und ohne schriftliche Dokumentationen.
Lieb
stellte weiterhin ein Organisationszentrum dar, insofern er sich für intensive
Diskussionen zur Verfügung hielt bei Fragen, die bei den Arbeiten anderer
Mitarbeiter in der IL auftraten. Allgemein entstanden die Arbeiten in diesem
Entwicklungsstadium als Beiträge von Einzelpersonen, die immer noch eine
lockere Gruppe bildeten.
Vier Themengruppen
lassen sich unterscheiden:
i. | Der Wort-und-Paradigma-Teil der syntaktischen Theorie wurde historisch eingeordnet, zusammengefaßt und modifiziert. |
ii. | Der Arbeitsschwerpunkt in diesem Entwicklungsstadium lag auf empirischen Anwendungen des integrativen Rahmens, Anwendungen von Buchlänge auf unterschiedliche Sprachen aus verschiedenen Sprachfamilien, unter Einschluß von Sprachdokumentation. |
iii. | Im Theoriebereich wurde intensiv gearbeitet an einer Alternative zu der bisherigen integrativen Behandlung von Wortbildung; als die Behandlung in dem Berliner Kolloquium diskutiert wurde (s.o. § 4.1.1), hatte sie sich als unzureichend und eher fehlkonzipiert erwiesen. |
iv. | Zum Teil aufgrund der Ergebnisse bei (i) und (ii) wurden Modifikationen in den morphosyntaktischen Rahmen eingeführt oder für ihn erwogen – einschließlich von Änderungen des Wort-und-Paradigma-Modells, die über (i) hinausgehen. |
5.1.2
Einzelheiten
Zu (i)
Hierzu vergleiche man Lieb (2005),
einen Essay, der auch bei späteren integrativen Arbeiten wie den gleich
genannten einen Ausgangspunkt bildete. Aufgrund von Lieb (2005)
läßt sich die (klassische) IL-Konzeption von Paradigmen – von der in dem
Eisenberg-Zweig der Integrativen Sprachwissenschaft allerdings abgewichen wird –
den Wort-und-Paradigma-Modellen von Matthews, Stump und Blevins
gegenüberstellen.
Zu (ii)
Die folgenden Arbeiten wurden
durchgeführt, abgeschlossen und als Buch oder in Buchform
veröffentlicht:
Drude et al.
(2006),
Dokumentation des Awetí (s.o. § 4.1.4)
Nolda
(2007a),
zum Deutschen (Schnittstelle Syntax/Semantik, Satzsemantik)
Lieb
(2008),
zum Deutschen und Französischen (kontrastive Phonologie)
Friedrich
(2009), zum Russischen (Satzsemantik)
Hla Myat Thway
(2010),
Dokumentation des Yinchia (Phonologie, etwas Morphologie und Syntax)
Su
(2011), zum Chinesischen (Mandarin) (Phonologie,
Syntax, Wort- und Satzsemantik)
Viguier
(2013), zum Französischen
(Schnittstelle Syntax/Semantik, Satzsemantik)
Eisenberg
(2013)
, Grammatik des Modernen
Standarddeutsch (4. Aufl.)
Ferner wurde eine Dissertation zum Burmesischen
abgeschlossen (Schnittstelle Syn-tax/Semantik, unveröffentlicht).
Hinzu kommen zwei Sammelwerke:
Sackmann
(2008b)
(hierin u.a. Lieb 2008)
Nolda und Teuber
(2011) (IL-Arbeiten
und Aufsätze mit einer vergleichbaren Orientierung)
Zu Sackmann (2004),
zum Chinesischen, und Drude
(2004), zum Guaraní, sowie Eisenberg (2013), s.o. § 4.1.
Für Arbeiten geringeren Umfangs vergleiche
man die Gesamtbibliographie auf der vorliegenden Homepage.
Zu (iii)
Die Arbeit im Berliner Kolloquium
Integrative Sprachwissenschaft führte im Jahre 2002 zu einer grundlegenden
Änderung in der integrativen Konzeption von Wortbildung (vgl. Teil XVI bis
XVIII von Lieb ed. 2017, s.o. § 4.1.1 – die Änderungen betreffen nicht
den Eisenberg-Zweig der IL): Von einer Item-and-Arrangement-Konzeption erfolgte
der Übergang zu einem (nicht-generativen) Item-and-Process-Ansatz. Hiervon
ausgehend entwickelten Lieb und anschließend Nolda (über den Fünften
Entwicklungsabschnitt hinaus) jeder eine eigene Theorie der Wortbildung; diese
Theorien sind eng verwandt:
Nolda
(2012/2013)
ist eine Habilitationsschrift, die in integrativem Rahmen eine allgemeine,
formal entwickelte Wortbildungstheorie vom Item-and-Process-Typ darstellt,
ausgehend von Konversion im Deutschen, die auch als Beispiel dient.
Lieb
(2013)
umreißt eine allgemeine Wortbildungstheorie auf Item-and-Process-Basis mit
einer formalen Konzeption von Prozessen, die auch Flexionsprozesse einschließt,
und erläutert die Theorie hauptsächlich an Beispielen aus dem Englischen.
Nolda
hat
zusätzlich ein Komputerprogramm entwickelt, mit dem er seine
Wortbildungstheorie implementiert:
PPR
:
System for Processing formation Patterns and Restrictions
http://andreas.nolda.org/index.php/software#ppr
Zu (iv)
Am wichtigsten sind einerseits die Modifikationen
bei den syntaktischen Funktionen und ihren Typen, die in Lieb (2011a)
eingeführt oder erwogen werden, und andererseits die – bereits im Fünften
Entwicklungsabschnitt ins Auge gefaßten – Änderungen, die bei der Wort-und-Paradigma-Konzeption
in Lieb
(2005) erforderlich werden, sobald der neue Wortbildungsansatz
auf die Flexion ausgedehnt wird.
5.2 Aktualität
Das Wort-und-Paradigma-Modell,
das in Lieb (2005) dargestellt wird, hat sich in
den eben genannten Anwendungen bewährt und ist unabhängig von Interesse als
einziges Wort-und-Paradigma-Modell, das in Morphologie und Syntax mit einem
reinen Item-and-Arrangement-Ansatz einhergeht. Der allgemeine Wert des Modells bleibt
auch dann bestehen, wenn es mit einem Item-and-Process-Ansatz für die Flexion
verbunden und entsprechend angepaßt wird.
Die
Arbeiten
zu einzelnen Sprachen, die z.T. nicht miteinander verwandt sind und
unterschiedliche Sprachtypen repräsentieren, zeigen die Brauchbarkeit der
Integrativen Sprachwissenschaft als Grundlage für Sprachbeschreibungen und
liefern unabhängig davon signifikante Ergebnisse für ihr jeweiliges Thema. Um
nur ein Beispiel zu nennen: Viguier (2013) ist die
detaillierteste, am weitesten ausformulierte und umfassendste Darstellung, die
bisher für das Tempus-Aspekt-Modus-System irgendeiner Sprache existiert.
Schon
in ihren Anfängen während des Fünften Entwicklungsabschnitts wurde die Relevanz
der Wortbildungstheorien
erkennbar: Sie stellen Probleme in den Mittelpunkt, denen auch
gegenwärtig besondere Aufmerksamkeit gilt, wie die Erfassung ‚syntaktischer‘
Wortbildung. Die Theorien bilden einen einheitlichen Rahmen für die Behandlung
beliebiger Wortbildungsphänomene.
Auch
ältere integrative Behandlungen von Wortbildung erwiesen sich als einflußreich.
Dies gilt etwa für den wichtigen Begriff der Wortbildungs-Stammform (spezielle
Stammform zur Verwendung in Wortbildungsprozessen). Ursprünglich von Lieb in
die Integrative Linguistik eingeführt und immer noch essentiell in Noldas
aktueller Wortbildungstheorie – jedoch nunmehr verworfen von Lieb – hat sich
der Begriff in der deutschen Wortbildungsliteratur zunehmend eingebürgert (weitgehend
unter dem Einfluß von Arbeiten von Eisenberg und Nanna Fuhrhop), etwa bei Fleischer
und Barz (2012) oder in der Computerlinguistik in dem Lexikonprojekt IMSLex:
http://www.ims.uni-stuttgart.de/forschung/ressourcen/lexika/IMSLex.html
6.
Sechster Entwicklungsabschnitt (2014 – 2018, Ende offen)
Fortführung und Ausblick
6.1
Organisation und Themen
Dissertationen im Rahmen der
Integrativen Sprachwissenschaft sind weiterhin im Entstehen, und offene Probleme
werden weiter bearbeitet. Am aktivsten in diesem Enwicklungsabschnitt sind bisher
Lieb,
Viguier,
Nolda
und Budde,
mit Arbeiten zu unterschiedlichen Themen; im einzelnen vergleiche man hierzu
die allgemeine Bibliographie auf der vorliegenden Hompage oder jeweils die
autorenspezifische Homepage. Bei Budde hat sich als weiterer Schwerpunkt die
Beschäftigung mit Spracherwerbsfragen ergeben, und Nolda hat seinen
computerlinguistischen Arbeiten hinzugefügt ein Computerprogramm zur
halbautomatischen Glossierung von Lernertexten nach unterschiedlichen
Gesichtspunkten.
Viguier
organisierte 2014 an der Sorbonne Nouvelle eine Tagung (“Formation lexicale et
flexion dans les approches ‘Mots et Paradigmes’ ”), bei der die integrative
Behandlung von Wortbildung und Flexion mit ihrer Behandlung in anderen
sprachwissenschaftlichen Ansätzen konfrontiert wurde.
Neue
IL-Publikationen haben sich aus Konferenzbeiträgen ergeben, insbesondere Lieb (2018)
über Fragen der Sprachbeschreibung und Nolda (2018), eine Anwendung und
Dokumentation von Noldas Wortbildungstheorie; sie gehen beide auf Beiträge zu
einer Konferenz über ‚sprachwissenschaftlichen Realismus‘
zurück (Universität Braunschweig, 2015). In seinem Beitrag zu der Typologie-Arbeitsgruppe
bei der 50. Jahrestagung der Societas Linguistica Europaea (Zürich, 2017)
kritisiert Lieb scharf die bekannte Konzeption Haspelmaths von ‚comparative
concepts‘ gegenüber ‚descriptive categories‘; die Veröffentlichung von
Arbeitsgruppen-Beiträgen darf erwartet werden. Die genannten Arbeiten von Lieb
stellen eine Rückkehr zu Themen dar, die im Zweiten Entwicklungsabschnitt
prominent behandelt wurden (s.o. § 2.1).
Eine Hauptleistung im Sechsten Entwicklungsabschnitt ist die Veröffentlichung - im Umfang von fast zweitausend Seiten – der Reihe Linguistic research in progress: The Berlin Research Colloquium on Integrational Linguistics 1992–2003, Proceedings (Parts I to XXII) (Lieb ed. 2017); s.o. § 4.1.1.
Die Integrative Sprachwissenschaft ist aufs neue in sprachwissenschaftlichen Enzyklopädien oder Wörterbüchern repräsentiert worden, bezüglich der Sprachwissenschaft des Chinesischen in Su (2017) und mit syntaktischen Schlüsselbegriffen in Schierholz und Wiegand (2012–) durch Beiträge von Nolda, 2014 und 2016.
6.2 Aktualität
Der Sechste
Entwicklungsabschnitt ist noch nicht abgeschlossen. Die bisherigen
Veröffentlichungen in diesem Abschnitt sind noch zu neu, als daß ihre Bedeutung
und Wirkung abschließend beurteilt werden könnten. Immerhin bietet sich Lieb
ed. (2017) auf Jahre hinaus als ein bedeutsamer Bezugspunkt an nicht
nur für die Integrative Sprachwissenschaft, sondern allgemeiner für alle Sprachwissenschaftler,
die ernsthaft an der Entwicklung einer allgemeinen Sprachtheorie interessiert
sind. Ebenso stellt Lieb
(2018)
eine ernste Herausforderung dar für aktuelle Formen der Grammatikschreibung: Der
Essay argumentiert erstens für die
Bedeutung von allgemeinen Sprachtheorien für die Formulierung von Grammatiken, zweitens für den Primat, in bestimmter
Hinsicht, von informellen Grammatiken und drittens
für die Wahl einer axiomatischen Form bei formalen Grammatiken.
Ebenso
stellen die Arbeiten von Lieb und Nolda zu Wortbildung und Flexion eine
Herausforderung dar für etablierte und aktuelle Ansätze auf diesem Gebiet.
Es
zeugt von der Anerkennung und dem andauernden Einfluß der Integrativen
Sprachwissenschaft, daß sie oder ihre Schlüsselbegriffe in neueren
sprachwissenschaftlichen Enzyklopädien oder Wörterbüchern weiterhin vertreten sind.
Dasselbe gilt für die Rolle der Integrativen Sprachwissenschaft als Teil des
theoretischen Hintergrunds in der monumentalen, 2000-seitigen Arbeit Gunkel
et al. (2017), einer der umfassendsten Untersuchungen auf dem Gebiet
der komparativen Morphosyntax, die jemals vorgelegt wurden.
6.3 Ausblick
Die Arbeit im Rahmen der Integrativen Sprachwissenschaft geht weiter. Was jedoch fehlt, ist eine Einführung in diesen Ansatz in Buchform, und noch immer fehlt auch die Veröffentlichung der Folgebände zu Lieb (1983b). Diese wird jedoch gegenwärtig in Angriff genommen (vgl. Lieb ed. 2017: Teil I, xvii). Die Bände charakterisieren den integrativen Ansatz vom heutigen Standpunkt aus und machen wesentliche Texte zu Grundlagen und Entwicklung neu verfügbar.
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