Grammatiktheorie

Hans-Heinrich Lieb

Integrative Sprachwissenschaft: Grammatiktheorie

© 2018 Hans-Heinrich Lieb


1.  Einleitung

Die Integrative Grammatiktheorie (Integrational Theory of Grammars ITG) wurde zuerst vorgelegt in Lieb (1974a), (1976c) und später zusammengefaßt und modifiziert in Lieb (1983b: Teil G) und Lieb (1993g: Kap. 20 und 21). Die Theorie ist nunmehr neu charakterisiert und ist aktuellen Ansätzen in der Grammatikschreibung (vgl. Müller 2018) gegenübergestellt in Lieb (2018). (Eine Kritik an früheren Fassungen der ITG findet sich in Falkenberg 1996a.)

Allgemein dürfte nur die Integrative Sprachwissenschaft (IL) die folgenden Eigenschaften aufweisen:

i. Sie trennt scharf zwischen Theorien von Grammatiken (Grammatiken verstanden als Texten) und Sprachtheorien (verstanden als allgemeinen Theorien von Sprachen, in einem grammatikunabhängigen Sinn von „Sprache“).
ii. Sie entwickelt eine Theorie von Grammatiken (eine Grammatiktheorie) und eine allgemeine Theorie von Sprachen (eine Sprachtheorie) in ihrem wechselseitigen Zusammenhang, aber als getrennte Theorien.

Bei Grammatiken beliebiger Art und bei Grammatiktheorien wird in der IL angenommen, daß beide explizit oder implizit Sprachtheorien voraussetzen oder doch voraussetzen sollten, seien diese noch so informell oder unvollständig, und es wird argumentiert, daß deren Vernachlässigung zu ernsten Probleme führe (ähnlich Lehmann 2018). Die folgende Bedingung ist in der IL erfüllt, nicht aber analog in typischen Grammatikansätzen, wie sie in Müller (2018) diskutiert und dargestellt werden:

(1)    Die Integrative Grammatiktheorie und jede ihr entsprechende Grammatik setzt die Integrative Sprachtheorie voraus.

In Lieb (1974a), (1976c) geht es primär um die Formulierung einer Grammatiktheorie, und erst in diesem Zusammenhang wird auch eine allgemeine Sprachtheorie skizziert. In Liebs späteren Arbeiten einschließlich dem größten Teil von Lieb (1983b) und von Lieb (1993g) steht die Entwicklung einer Sprachtheorie im Mittelpunkt, der Integrativen Sprachtheorie (Integrational Theory of Language - ITL); vgl. insbesondere auch Lieb ed. (2017). Die Teile von Lieb (1983b) und (1993g), in denen die Integrative Grammatiktheorie dargestellt wird, setzen IL-Arbeiten zur Integrativen Sprachtheorie voraus.

Mit der Integrativen Grammatiktheorie (ITG) wird das Format, die Interpretation und die Weiterentwicklung von Grammatiken gekennzeichnet, von Integrativen Grammatiken oder I-Grammatiken, wie sie (in Teilen) existieren oder existieren könnten. Damit gehört die ITG in den Bereich der ‚Theorie der Sprachbeschreibung‘ als einem Zweig der ‚Theorie der Sprachwissenschaft‘ (die ihrerseits ein Zweig der Wissenschaftstheorie ist).

In der ITG wird allerdings nicht erfaßt, wie man zu einer Grammatik gelangt. Dies wird der Methodologie der Sprachwissenschaft zugewiesen, einem weiteren Zweig der Theorie der Sprachwissenschaft. Jedoch hat die ITG indirekt Relevanz für die Methodologie der Sprachwissenschaft durch das besondere Gewicht, das sie auf den empirischen Charakter von Grammatiken legt.

Die Grundlage für den folgenden kurzen Abriß der ITG ist der grammatiktheoretische Teil von Lieb (1983b), besonders aber Lieb (2018). Die ITG setzt zwar die Integrative Sprachtheorie voraus, diese findet aber im Folgenden nur mit einigen wenige Zügen Erwähnung, die für die ITG relevant sind; zu Einzelheiten der ITL sei auf entsprechende Texte auf der vorliegenden Homepage verwiesen („Die Integrative Sprachwissenschaft: Entwicklung und Aktualität“ und „Integrative Sprachwissenschaft: Sprachtheorie“).

Die Arbeiten zur ITG allgemein werden ergänzt durch speziellere Arbeiten, die den Rahmen der ITG verwenden. Lieb (2013: Sec. 7) umreißt, wie die ITG im Wortbildungsteil einer Grammatik verwendet werden kann; ähnlich Nolda (2018) in einem verwandten Rahmen für die Erfassung von Wortbildung, mit einer Anwendung auf das Deutsche und einer Implementierung durch ein Computerprogramm  (http://andreas.nolda.org/index.php/software#ppr). Ausgehend von Lieb (1998b) verwendet Lieb (2008) die axiomatische Methode, um die deutsche und die französische Phonologie kontrastiv zu kennzeichnen. Jedoch ist die axiomatische Methode in der IL bisher überwiegend bei der Entwicklung einer Sprachtheorie angewandt worden und nicht zur Formulierung axiomatischer Grammatiken.

Außerhalb der IL hat kürzlich auch Neef (2014) für axiomatische Grammatiken argumentiert.


2.  Allgemeine Annahmen

In Lieb (2018: § 4.2) werden einige wesentliche Annahmen der ITG, die Gebrauch machen von der ITL als vorausgesetzter Sprachtheorie, informell gekennzeichnet (ihre Numerierung wird auch für den vorliegenden Text beibehalten):

(2)    A grammar of a linguistic means of communication – i.e., of an idiolect – is a text that determines – either completely or in part – a system of the means of communication: a system such that something is a normal utterance by a speaker using the means of communication only if the utterance agrees with the system.

(3)    A grammar of a set of idiolects is a text that determines, or identifies, a system for the set of idiolects: a system construed, in the simplest case, as a set of component-specifying properties of idiolect systems such that for any system of any idiolect in the set, the system has each one of the properties.

(4)    The object of a grammar is a pair consisting of either

i. an idiolect and a system of the idiolect, or
ii. a language construed as a set of idiolects (where a language is either a complete historical language or one of its periods – a certain subset) plus a system for the language, or
iii. a variety of a language (also construed as a subset) plus a system for the variety (stages of languages or varieties count as varieties of a language).

(5)    If a formal or semi-formal grammar has the same intended coverage as a part of an informal one, then any grammatical statement made in this part and any of its logical consequences or presuppositions can, in principle, have a semantic analogue in the formal or semi-formal grammar. These assumptions can be modified to cover more complex grammars such as comparative ones, along the lines of Lieb (1993: Chs 20 and 21).

Bei „language“ in (2) bis (5) ist jeder Realisationsmodus zugelassen ebenso wie vollentwickelte Zeichensprachen. Lieb (1993) = Lieb (1993g).

Bei Annahme 5 handelt es sich um eine Adäquatheitsbedingung für formale und halbformale Grammatiken, mit der informelle Grammatiken als vorrangig gekennzeichnet werden. Diese Bedingung ist nicht an den IL-Rahmen gebunden. In Lieb (2018) wird argumentiert, daß die Bedingung von generativen Grammatiken, seien sie generativ-aufzählend wie in der klassischen Generativen Grammatik oder beschränkungsbasiert und modelltheoretisch wie in der HPSG, nicht erfüllt werden kann, im Unterschied zu formalen oder halbformalen I-Grammatiken.

Allgemein wird die ITG in Lieb (2018) anderen Grammatiktheorien gegenübergestellt und auf das Verfassen von informellen Grammatiken bezogen. Die vorliegende Charakterisierung der ITG beschränkt sich auf die Konzeption formaler und halbformaler Grammatiken im Sinne von Texten.


3.  Die Form axiomatischer Grammatiken  

Nach der Konzeption in der ITG erfüllen formale und halbformale I-Grammatiken die folgende Grundbedingung:

(6)    Grammatiken sind axiomatische Theorien in einem konservativen Sinn.

Vorausgesetzt ist im wesentlichen die Konzeption axiomatischer Theorien in Carnap (1958/2012: Sec. 42) in ihrer modifizierten Form in Lieb (1983b: Teil G) und Lieb (2018: § 7).

Aufgrund ihrer axiomatischen Form tritt in formalen oder halbformalen I-Grammatiken eine Reihe von Unterscheidungen explizit hervor, die in informellen Grammatiken gewöhnlich verborgen bleiben. Die axiomatische Form erlaubt es, in einer formalen oder halbformalen Grammatik – ja selbst in einer zugeordneten informellen Grammatik – das Folgende wenigstens teilweise zu erkennen (Lieb 2018: § 7.4, (9)): 

  1. The sentences that should be taken as definitions (including recursive definitions), or as formulating basic assumptions, or as formulating consequences of definitions and basic assumptions. [ … ]
  1. The ontological status that may be assumed for the linguistic objects described by the grammar. [ … ]
  1. The definitional status that may be assigned to the terms in the grammar (defined vs. undefined), their logical status (logical vs. non-logical, in particular,axiomatic), and their interpretation. [ … ]
  1. The relationship of the grammar to potential data. [ … ]

In Lieb (2018: Teil C und D) werden I-Grammatiken in wichtigen Einzelheiten beschrieben, die jetzt gekennzeichnet werden sollen.  


4.  Axiomatische Grundkonstanten: Sprachname und Sprachsystem-Name

Man betrachte eine Grammatik G einer Sprache oder Sprachausprägung (Sprachvarietät) D (die ITG-Behandlung von Idiolektgrammatiken bleibt hier außer Betracht). Es gibt dann wenigstens eine axiomatische Grundkonstante (undefinierte axiomatische Konstante) der Grammatik, nämlich einen Sprachnamen D*, etwa „Englisch“; er bezeichnet die Menge D von Idiolekten. Es empfiehlt sich, den Sprachnamen nicht zu definieren, sondern als undefinierte Konstante in die Grammatik einzuführen; gestützt wird dies durch die Annahme eines ‚Sprachnamen-Axioms‘, s.u. § 8.

Wir benötigen weiter eine Konstante σ* als Bezeichnung eines Systems σ für die Sprache oder Sprachausprägung D, den Sprachsystem-Namen. Sofern undefiniert, ist σ* die einzige andere axiomatische Grundkonstante der Grammatik. Falls definiert, ist σ* eine axiomatische Konstante, wenn der Sprachname in der Definition gebraucht ist; dies muß aber nicht zutreffen, und zwar aus dem folgenden Grunde.

Der Sprachsystem-Name könnte definiert sein allein mittels Ausdrücken der ‚Grundsprache‘ der Grammatik, eines Teils der Sprache, in welcher die Grammatik formuliert ist: des Teils, der keine Ausdrücke enthält, in denen axiomatische Konstanten vorkommen. Die Grundsprache enthält jede von der Grammatik vorausgesetzte Theorie, insbesondere auch die vorausgesetzte Sprachtheorie; im Falle einer I-Grammatik ist dies die Integrative Sprachtheorie (ITL). Die Ausdrücke der vorausgesetzten Sprachtheorie stehen nun auch zur Verfügung, um den Sprachsystem-Namen zu definieren, und mögen hierfür sogar ausreichen. Bei einer entsprechenden Definition ist σ* keine axiomatische Konstante der Grammatik, sondern eine Konstante der Grundsprache der Grammatik. Aber selbst dann ist σ* verbunden mit dem Sprachnamen durch das ‚Sprachsystem-Axiom‘, s.u. § 8.

Zusätzlich zu dem Sprachnamen und dem Sprachsystem-Namen benötigen wir in der Grammatik G Ausdrücke, mit denen wir uns auf sprachliche Objekte beziehen können, die mit der Sprache oder Sprachausprägung D in Zusammenhang stehen.


5.  Die Sprachtheorie als Quelle grammatischer Termini

Selbst in einer informellen Grammatik einer Sprache wird eine allgemeine Sprachtheorie, wie unvollständig sie auch sein mag, zumindest implizit vorausgesetzt und spielt in ihr eine grundlegende Rolle für die Bildung der Terminologie, mit der man sich auf die zu der Sprache gehörenden Gegenstände beziehen kann. Das folgende Beispiel ist in etwas vereinfachter Form Lieb (2018) entnommen.

Es sei G eine I-Grammatik, in der also ITL vorausgesetzt ist, die Integrative Sprachtheorie, und diese enthalte die folgende Definition:

(7)    W ist ein Artikel von S genau dann, wenn gilt: S ist ein Idiolektsystem, und W ist ein lexikalisches Wort von S  mit leerer lexikalischer Bedeutung, und für jede Form von W gibt es eine (analytische) Nomenform von S, deren Auxiliarteil ein Vorkommen der Form ist.

Wir haben hier für ITL eine Konzeption angesetzt, bei der nicht nur Verben, sondern auch Nomina analytische Formen haben können, etwa der baum in deutschen Idiolektsystemen; ferner sind grammatische Termini wie „Artikel“ („Artikel von“) nicht auf Sprachsysteme bezogen, sondern auf Idiolektsysteme, um der Sprachvariabilität von vornherein Rechnung zu tragen.

Ich möchte Definition (7) in der Tat ansetzen, aber andere Definitionen für „Artikel“ – in einem Sinn, in dem dieser Ausdruck bei den Idiolektsystemen beliebiger Sprachen Anwendung findet – sind denkbar. (Ferner ließe sich „Artikel“ in einem informellen Sinn nicht nur, wie oben formal explizieren, als zweistelliges Prädikat,, sondern auch als einstelliger Funktor, vgl. Lieb 2018: § 6.5.) Jedenfalls kann „Artikel“ nunmehr in Grammatiken beliebiger Sprachen gebraucht werden als ein grammatischer Terminus oder als ein Terminus, von dem komplexere grammatische Termini durch rein logische Operationen gebildet werden können.


6.  Grammatische Termini in einer Grammatik einer Sprache oder Sprachausprägung

Angenommen, G ist eine I-Grammatik des Britischen Standardenglisch, die also als allgemeine Sprachtheorie ITL voraussetzt und bei der „Britisches Standardenglisch“ der Sprachname ist. Die Grammatik kann dann das folgende Theorem enthalten:

(8)    Für jedes System S eines Idiolekts, der zum Britischen Standardenglischen gehört, und für jedes W gilt: W ist ein Artikel von S genau dann, wenn W ein lexikalisches Wort von S ist und a, the, sòme, àny, oder eine Form von W ist.

(sòme, àny, und unterscheiden sich von den entsprechenden Formen von Indefinitpronomina durch inhärenten Nebenakzent, angedeutet durch das Akzentzeichen.) Hiermit äquivalent ist:

(9)    Für jedes System S eines Idiolekts, der zum Britischen Standardenglischen gehört, und für jedes W gilt: W ist ein Element von Artikel (-, S) genau dann, wenn W ein lexikali- sches Wort von S ist und a, the, sòme, àny, oder eine Form von W ist.

Man betrachte den Ausdruck „Artikel (-, S)“. Gemäß der Bindestrich-Notation, wie sie  in Carnap (1958/2012: § 33d) definiert wird, ist „Artikel (-, S)“ ein logisch komplexer Ausdruck, für den im Zusammenhang von (9) gilt: Er bezeichnet die Menge der lexikalischen Wörter von S, zu deren Formen  a, the, sòme, àny, oder gehört, wobei S irgendein System irgendeines Idiolekts des Britischen Standardenglischen ist.

Angenommen nun, S* ist ein definierter Terminus der Grammatik G, dessen Definition den Sprachnamen „Britisches Standardenglisch“ direkt oder indirekt verwenden kann, aber nicht muß, und angenommen, der Satz „S* ist ein System eines Idiolekts des Britischen Standardenglischen“ ist ein Axiom oder Theorem der Grammatik G. Wir erhalten dann von (9) das Theorem

(10)    Artikel (-, S*) = die Menge der lexikalischen Wörter W von S*, für die gilt: a, the, sòme, àny, oder  ist eine Form von W. Die Ausdrücke “Artikel (von)”, “Artikel (-, S)”, und “Artikel (-, S*)” in (7) bis (10) sind wie folgt miteinander verbunden.


7.  Grammatische Termini: Analyse

Der Ausdruck „Artikel (von)“ ist eine in (7) definierte grammatische Konstante von ITL, von der in der Grammatik vorausgesetzten allgemeinen Sprachtheorie. Diese Konstante ist in (8) gebraucht, und ebenso in (9) in „Artikel (-, S)“, einem logisch komplexen ‚offenen‘ Ausdruck (der also eine freie Variable enthält), sowie in dem logisch komplexen geschlossenen Ausdruck „Artikel (-, S*)“ in (10): Überall ist die Konstante so gebraucht, wie sie in (7) definiert ist; eine Neudefinition von „Artikel (von)“ findet in der Grammatik nicht statt.

Die beiden logisch komplexen Ausdrücke können schon deshalb nicht Definiendum von Definitionen sein, weil sie keine Konstanten sind. Trotzdem stehen diese Ausdrücke in der Grammatik zur Verfügung zum Bezug auf grammatische Kategorien, und zwar entweder wie in (9) auf Kategorien beliebiger Idiolektsysteme des Britischen Standardenglisch, oder wie in (10) auf eine Kategorie eines einzelnen derartigen Systems. Keiner der beiden Sätze (9) und (10) ist eine Definition; sie sind Theoreme der Grammatik, empirische Behauptungen, die grundsätzlich auch falsch sein können (was sie sind, falls man sòme, àny, und als eigene Formen lexikalischer Wörter nicht annehmen darf).

Diese Analyse trifft ebenso zu auf (8). Zugegeben, (8) hat die Form einer bedingten Definition von „Artikel (von)“, mit der die Verwendung des Ausdrucks auf das Britische Standardenglisch eingeschränkt wird; aber deshalb muß (8) nicht so aufgefaßt werden. Und in der Tat, solange „Artikel (von)“ als Konstante der vorausgesetzten Sprachtheorie in der Grammatik zu Verfügung steht, kann es eine neue Definition für diesen Ausdruck nicht geben: Die Definitionstheorie schließt mit Recht die Mehrfachdefinition eines Ausdrucks in demselben Verwendungskontext aus.

Aber angenommen, die Sprachtheorie ITL ist in einer Grammatik nicht vorausgesetzt, oder wir führen bei den Ausdrücken einen formalen Unterschied ein, etwa durch Kursivschreibung, um zwei leicht verschiedene Ausdrücke zu gewinnen: „Artikel“ und „Artikel“, wobei der zweite Ausdruck einer ‚deskriptiven Kategorie‘, bzw. dem Namen einer solchen, im Sinne von Haspelmath (2010), Haspelmath (to appear) entsprechen würde, also unabhängig definiert wäre. Die Auswirkungen wären verheerend in dreierlei Hinsicht: „Artikel“ in der Grammatik und „Artikel“ in einer Sprachtheorie, definiert wie z.B. in (7), wären logisch unverbunden; „Artikel“ müßte für jede neue Grammatik und im Hinblick auf jede neue Sprache neu definiert werden; und ein Satz wie (8) verlöre seinen Status als empirische Behauptung – Definitionen sind entweder logisch wahr, oder sie sind weder wahr noch falsch. Anders gesagt, es ist einfach inadäquat, Sätze wie (8) mit Haspelmath als Definitionen aufzufassen. (Vgl. Lieb 2018 für die weitere Diskussion des Beispiels und seine Verallgemeinerung, mit einer anderen logischen Interpretation von Funktionsnamen wie „Subjekt“ in § 6.5.)

Zusammengefaßt: Die drei Sätze (8) bis (10) definieren keine Ausdrücke der Grammatik; die Sätze identifizieren sprachliche Gegenstände durch Eigenschaften, die nicht per definitionem festgelegt sind; diese Gegenstände werden bezeichnet durch Ausdrücke, deren Bedeutung direkt oder indirekt durch die Defnition in (7) gegeben ist.

Es ist allerdings nicht ausgeschlossen, daß eine Grammatik auch grammatische Konstanten enthält, die erst in ihr durch Definition eingeführt werden, mit Beschränkung ihres Gebrauchs durch geeignete Verwendung des Sprachnamens oder Sprachsystem-Namens bei der Definition. Jedoch sind die meisten grammatischen Termini, die in einer Grammatik gebraucht werden, entweder Konstanten einer vorausgesetzten Sprachtheorie oder logisch komplexe Ausdrücke, die man unter Verwendung solcher Konstanten erhält mittels nicht-definitorischer logischer Operationen. Dies gilt nicht nur für I-Grammatiken – mit ITL als vorausgesetzter Sprachtheorie –, sondern typischerweise auch für informelle Grammatiken; es gilt jedoch nicht für formale Grammatiken bei einer der üblichen Grammatiktheorien, in denen Sprachtheorien ganz einfach fehlen – zum Schaden der Grammatiken.


8.  Axiome und Theoreme in Grammatiken von Sprachen oder Sprachausprägungen

Der Ausdruck „Axiom“ ist mehrdeutig. Informell wird er etwa in dem folgenden Sinne gebraucht: „offenkundig wahre Behauptung, die keines Beweises bedarf“. In formalen Zusammenhängen bedeutet der Ausdruck jedoch: „Satz in einem deduktiven System, der in dem System keine Definition ist und nicht ableitbar ist von anderen Sätzen des Systems“. Die Axiome einer Theorie sind Axiome im zweiten Sinn; üblicherweise erfüllen sie im Hinblick auf die Theorie zusätzliche, informelle Relevanzkriterien. In einer allgemeinen Sprachtheorie oder einer axiomatischen Grammatik handelt es sich bei den Axiomen stets um Axiome im zweiten Sinn.

Bei einer I-Grammatik läßt sich die Rolle der Axiome folgendermaßen kennzeichnen (Lieb 2018: § 10.6):

Two axioms are needed in any grammar G of D and σ: the language-name axiom, which uses   the language name D* in stating that D is a language; and the language-system axiom, which uses D* and the language-system name in stating that σ is a system for D. There is at least one additional axiom, a language-determination sentence or, if the grammar is language complete, a language-identification sentence. If the grammar is system incomplete, at least one system- determination sentence is added as a further axiom.

Due to the language-name axiom, anything that can be said of languages in general can also be derived in the grammar in relation to D, to the extent that the presupposed theory of language has been taken over into the grammar. Analogously, for the language-system axi- om: due to this axiom, anything that holds of all language systems may be derived for σ, to the extent that the theory of language has been presupposed. Each one of the additional axioms is a claim on something that is ‘specific to D’.

In a grammar that is language complete, there is a language-identification sentence,   an additional language axiom or a theorem identifying D on the basis of σ. The identification sentence may well satisfy the form requirements for a definition of the language name, e.g., could have the following form: D* = the greatest set D´ such that σ* is a system for D´.

It would still be a fundamental mistake to construe the identification sentence as a definition, for the following reason. It must be possible for a language-identification sentence to be empirically false. However, definition sentences of a theory are either logically true or are neither trug nor false, depending on one’s theory of definition. Thus, the empirical nature of the grammar evaporates if the language-identification sentence is misconceived as a (‘nominal’) definition.

Die Sätze (8) bis (10), s.o., sind Beispiele für Theoreme; zu Beispielen für Beweise vgl. Lieb (2018: § 10.6).


9.  Anwendung und Modifikation von Grammatiken

Bei einer empirischen Theorie wie einer Sprachtheorie oder einer Grammatik unterliegen die Axiome und Theoreme der Revision und können überhaupt verworfen werden, sobald die Theorie mit relevanten Daten konfrontiert wird; selbst das System der Definitionen unterliegt der Modifikation.

I-Grammatiken werden mit relevanten Daten durch Grammatik-Anwendung konfrontiert. Es sei G eine I-Grammatik einer Sprache oder Sprachausprägung D. Die Anwendung von G besteht in der Erweiterung von G zu einer angewandten Grammatik G´, in einer Reihe von Schritten.

Zunächst werden zusätzliche Konstanten eingeführt als neue axiomatische Grundkonstanten von G´, mit denen spezifische Sprecher, Sprechobjekte oder –ereignisse und spezifische Idiolekte in D bezeichnet werden. Weitere, möglicherweise definierte Konstanten bezeichnen Systeme dieser Idiolekte. Die zusätzlichen Konstanten für Sprecher und Sprechobjekte oder –ereignisse sind ‚Beobachtungstermini‘ bezüglich G´.

In G und damit in G´ ist die Sprachtheorie ITL vorausgesetzt. Sie ermöglicht es, unterschiedliche Objekte in einem Idiolektsystem auf Sprechobjekte oder –ereignisse zu beziehen. Am wichtigsten hierbei ist ein Begriff der ‚normalen Äußerung‘, mit dem in der ITL Sätze eines Idiolektsystems – von unterschiedlicher Abstraktheit – zu solchen Objekten oder Ereignissen in Beziehung gesetzt werden.

Mit Hilfe der neuen Konstanten in G´ werden nun Sätze von G´ formuliert (Sätze der Grammatik), die besagen, daß bestimmte Sprechobjekte oder –ereignisse von bestimmten Sprechern normale Äußerungen gewisser Sätze bestimmter D-Idiolektsysteme sind. Die betreffenden Sätze der Grammatik werden jetzt in G´ zu den Axiomen von G als neue Axiome hinzugefügt (möglicherweise in sehr großer Zahl).

Man betrachte nun eines der neuen Axiome. Es sei V* der Name des Sprechobjekts oder –ereignisses V, von dem es in dem Axiom heißt, es sei eine normale Äußerung. In G und damit in G´ ist die Sprachtheorie ITL vorausgesetzt. Diese enthält allgemeine Annahmen zur Form und zur Bedeutung normaler Äußerungen von Sätzen von Idiolektsystemen, Annahmen, die in G´ zur Verfügung stehen.

Mit Hilfe dieser Annahmen und des neuen Axioms mit V* leiten wir jetzt ein Theorem ab, nach dem V gewisse formale oder semantische Eigenschaften hat. Trifft dies für V zu, dann sind hiermit die Sätze der Grammatik G´, von denen das Theorem abgeleitet ist, gemeinsam bestätigt, wenn auch nur in gewissem Maße; wenn nicht, dann ist wenigstens einer dieser Sätze widerlegt und muß revidiert oder verworfen werden, was zu einer Änderung – einer Modifikation – von G´ und möglicherweise von G führt. (Einzelheiten und Beispiel in Lieb 2018: §§ 11.1 bis 11.4.)  


10.  Integration von Grammatiken

Eine Grammatik G kann eine Sprachtheorie präsupponieren (voraussetzen), die dann in der Grundsprache der Grammatik (die axiomatische Ausdrücke nicht enthält) zur Verfügung steht. Eine angewandte Grammatik G´, die auf G beruht, ist eine Erweiterung von G. Präsupponieren und Erweiterung sind zwei Arten der Integration  von Grammatiken und anderen Theorien, bei denen es sich um Grammatiken, aber auch um Nicht-Grammatiken handeln kann.

Theorienintegration ist in Lieb (1983b: Kap. 29) charakterisiert, kürzer in Lieb (2018: § 11.4). Mehrere Arten von Theorienintegration werden unterschieden, die es gestatten, Grammatiken miteinander, mit anderen sprachwissenschaftlichen Theorien und selbst mit nicht-sprachwissenschaftlichen Theorien zu verbinden. Darüber hinaus wird in diesen Arbeiten gezeigt, wie sich unterschiedliche Teile einer Grammatik miteinander kombinieren lassen, etwa der phonetisch-phonologische, der syntaktische und der semantische Teil.

Integration in ihren verschiedenen Formen läßt sich anwenden, sobald Theorien wenigstens einige der Forderungen erfüllen, denen axiomatische Theorien genügen. Auch dies ist ein Argument zugunsten einer axiomatischen Form von formalen Grammatiken. Axiomatische Grammatiken können als Vergleichsmuster dienen für informelle Grammatiken, müssen sich aber selber unter praktischen Gesichtspunkten an diesen messen lassen.


Literaturverzeichnis

IL-Literatur

(Titel werden möglichst in der Form angeführt, in der sie in der allgemeinen Bibliographie erscheinen, die Teil der vorliegenden Homepage ist und die für einen Gesamtüberblick über die Literatur zur Integrativen Sprachwissenschaft herangezogen werden kann. Man vergleiche auch die Literaturverzeichnisse in den anderen Erläuterungstexten auf der Homepage, insbesondere das Literaturverzeichnis für „Integrative Sprachwissenschaft: Entwicklung und Aktualität“.)

Falkenberg, Thomas. 1996a. Grammatiken als empirische axiomatische Theorien. Tübingen: Niemeyer. (= Linguistische Arbeiten 3469

Lieb, Hans-Heinrich. 1974. "Grammars as theories: The case for axiomatic grammar (Part I)". Theoretical Linguistics 1, 39–115.

Lieb, Hans-Heinrich. 1976c. "Grammars as theories: The case for axiomatic grammar (Part II)". Theoretical Linguistics 3. 1–98.

Lieb, Hans-Heinrich. 1983b. Integrational Linguistics. Vol. I.: General Outline. (Current Issues in Linguistic Theory, 17). Amsterdam; Philadelphia: Benjamins.

Lieb, Hans-Heinrich. 1987. "Sprache und Intentionalität: der Zusammenbruch des Kognitivismus". In: Rainer Wimmer (ed.). Sprachtheorie: Der Sprachbegriff in Wissenschaft und Alltag. Jahrbuch 1986 des Instituts für deutsche Sprache. 76 (Sprache der Gegenwart 71.) Düsseldorf: Schwann, 11–76.

Lieb, Hans-Heinrich. 1993g. Linguistic variables: Towards a unified theory of linguistic variation. (Current Issues in Linguistic Theory, 108.) Amsterdam; Philadelphia: Benjamins.

Lieb, Hans-Heinrich. 1998b. "Morph, Wort, Silbe: Umrisse einer Integrativen Phonologie des Deutschen". In: Matthias Butt and Nanna Fuhrhop (eds). Variation und Stabilität in der Wortstruktur: Untersuchungen zu Entwicklung, Erwerb und Varietäten des Deutschen und anderer Sprachen. Hildesheim etc.: Olms. (= Germanistische Linguistik 141–142). 334–407. 

Lieb, Hans-Heinrich. 2008. "The case for two-level phonology: German Obstruent Tensing and Nasal Alternation in French". In: Robin Sackmann (ed.). 2008b. 21–96. 

Lieb, Hans-Heinrich. 2013. Towards a general theory of word formation: the Process Model. Berlin: Freie Universität Berlin. (An open access publication.). 101 pp. http://edocs.fu-berlin.de/docs/receive/FUDOCS_document_000000018561

Lieb, Hans-Heinrich. 2018. “Describing linguistic objects in a realist way.” In: Christina Behme and Martin Neef (eds.), Essays on linguistic realism. Amsterdam: Benjamins. (= Foundations of Language Companion Series 196). 79-138.

Lieb, Hans-Heinrich (ed.). 2017. Linguistic research in progress: Proceedings of the Berlin Research Colloquium on Integrational Linguistics 1992 – 2003 (Parts I to XXII) / Berliner Forschungskolloquium Integrative Sprachwissenschaft 1992-2003. Protokolle (Teil I bis XXII). Berlin: Freie Universität Berlin. [Ca. 2000 pp.] http://edocs.fu-berlin.de/docs/receive/FUDOCS_series_000000000782 

Nolda, Andreas. 2018. “Explaining linguistic facts in a realist theory of word formation”. In: Christina Behme and Martin Neef (eds.), Essays on linguistic realism. (= Foundations of Language Companion Series 196). Amsterdam: Benjamins. 203-234.

Sackmann, Robin (ed.) 2008b. Explorations in Integrational Linguistics: four essays on German, French, and Guaraní. (Studies in Integrational Linguistics, 1). Amsterdam; Philadelphia: Benjamins. (= Current Issues in Linguistic Theory 285).


Andere Literatur

Carnap, Rudolf. 1958/2012. Introduction to symbolic logic and its applications. New York: Dover Publications. [Nachdruck 2012, Courier Corp., North Chelmsford, MA.]

Haspelmath, Martin. 2010. “Comparative concepts and descriptive categories in crosslinguistic studies”. Language 86 (3), 663-687.

Haspelmath, Martin. to appear. "How comparative concepts and descriptive linguistic categories are different.” (revised version, January 2018). In: Brisard, Frank; Mortelmans, Tanja; and Daniel van Olmen (eds.), Festschrift for Johan Van der Auwera. Berlin and New York:  de Gruyter. [zenodo preprint]

Lehmann, Christian. 2018. “Linguistic concepts and categories in language description and comparison”. In: Marina Chini and Pierluigi Cuzzolin (eds.). Typology, acquisition, gramma grammaticalization studies. Milano: Franco Angeli. (Im Druck.) http://www.christianlehmann.eu/publ/lehmann_ling_concepts_categories.pdf

Müller, Stefan. 2018. Grammatical theory: From transformational grammar to constraint-based approaches. (Textbooks in Language Sciences 1). 2nd, rev. and ext. edition. Berlin: Language Science Press.