Sprachtheorie

Hans-Heinrich Lieb

Integrative Sprachwissenschaft: Sprachtheorie

© 2018 Hans-Heinrich Lieb


Teil I

Allgemeine Charakteristik

(Bemerkung. „Teil II: Integrative Sprachsystem-Theorie“ ist gegenwärtig – 2018 – noch in Arbeit und bildet einen eigenen Text, s.u. § 2.3.)  


1.  Gegenstandsbereich, Entwicklungsstand, Theorienform, Rahmentheorien


1.1  Gegenstandsbereich und Entwicklungsstand (2018)

Die Integrative Sprachtheorie (The Integrational Theory of Language - ITL) hat beliebige Sprachen in jedem Realisationsmodus (lautlich, schriftlich, gestisch) zum Gegenstand und soll sowohl die Systemaspekte von Sprachen erfassen (Integrative Sprachsystem-Theorie – Integrational Theory of Linguistic Systems – ITLS) als auch ihre kommunikativen Aspekte (Integrative Theorie des Sprachgebrauchs – Integrational Theory of Language Use). Die Varietäten- oder Ausprägungsstruktur von Sprachen wird in ihrer Gesamtheit berücksichtigt (Integrative Theorie sprachlicher Variabilität).

Die sprachtheoretische Arbeit in der IL hat überwiegend der Integrativen Sprachsystem-Theorie gegolten, mit zwei Meilensteinen: Lieb (1983b) sowie der zweitausendseitigen Dokumentation der Arbeit des Berliner Kolloquiums Integrative Sprachwissenschaft, 1992 bis 2003 (Lieb ed. 2017). Die zweite Veröffentlichung besteht aus zweiundzwanzig Teilen. Der Haupttext jedes Teils ist auf Deutsch, wird jedoch begleitet von einer ausführlichen englischen Einleitung; diese enthält eine Zusammenfassung und legt die Bedeutung des Teils für die aktuellen Forschungen in der Sprachwissenschaft dar.

Die Integrative Theorie sprachlicher Variabilität ist weit entwickelt in Lieb (1970c) und Lieb (1993g).

Am wenigstens entwickelt ist die Integrative Theorie des Sprachgebrauchs. Allerdings wird im semantischen Teil der Sprachsystem-Theorie Referieren als Sprecherreferenz (Referieren durch einen Sprecher) behandelt, und Satzbedeutungen werden als Beziehungen zwischen potentiellen Äußerungen und Sprechern aufgefaßt, Beziehungen, die Situationsfaktoren berücksichtigen und ebenso Faktoren, denen man üblicherweise erst in der Sprechakttheorie Rechnung trägt. Bei einer andersartigen Gesamtkonzeption hätte der jetzige semantische Teil der Integrativen Sprachsystem-Theorie auch in die Theorie des Sprachgebrauchs eingeordnet werden können. Trotzdem ist die Integrative Theorie des Sprachgebrauchs gegenwärtig unvollständig; es fehlt insbesondere eine Diskurstheorie als ein spezieller Teil. 

Bei der Behandlung aller drei Gebiete – Systeme, Variabilität und Gebrauch – hat das Schwergewicht auf gesprochener Sprache gelegen; Arbeiten zu Zeichensprachen sind grundsätzlich vorgesehen, fehlen aber bisher. Dagegen haben Peter Eisenberg und seine Schüler (insbesondere Nanna Fuhrhop) wichtige IL-inspirierte Arbeiten zu geschriebener Sprache vorgelegt, mit besonderem Bezug auf das Deutsche. Andreas Nolda arbeitet gegenwärtig zu geschriebener Sprache in allgemeinerer Form und stärker theoretisch orientiert.


1.2  Theorienform

Von Anfang an wurde für die Sprachtheorie und ihre Teile eine axiomatische Formulierung angestrebt; allerdings ist eine solche Formulierung für Teile oder Bruchstücke der ITL erst auf einzelnen Gebieten erreicht. Eine axiomatische Formulierung gestattet maximale Klarheit und ist dabei mit dem Wesen einer empirischen Theorie vereinbar, solange die Formulierung sich an den Daten des jeweiligen Phänomenbereichs orientiert und auf sie anwendbar ist.

Empirische Theorien müssen einen konzeptuellen Kern besitzen; er besteht aus den Annahmen und Definitionen – beide typischerweise relativ allgemein – die als letzte modifiziert oder aufgegeben werden, wenn die Theorie auf Daten trifft, die mit ihr im Widerspruch stehen oder von ihr nicht erfaßt werden. Viele Jahre hindurch standen die konzeptuellen Kerne im Mittelpunkt der Arbeit an der ITL und ihren Teiltheorien; solche Kerne ergeben sich nicht einfach als Verallgemeinerungen über große Datenmengen. Als Theorie, die grundsätzlich auf beliebige Sprachen anwendbar ist, kann die ITL in Grammatiken beliebiger Sprachen vorausgesetzt werden; sie bietet damit einen Rahmen für die Arbeit von Sprachwissenschaftlern, die stärker deskriptiv interessiert sind, und zeigt zugleich, wie sich die Ergebnisse ihrer Arbeit verallgemeinern lassen. 


1.3  Rahmentheorien: Die Integrative Kommunikationstheorie

Ausdrücklich oder implizit ist die ITL mit einer Anzahl anderer Theorien verbunden wie z.B. einer Theorie der Zeit, um die zeitlichen Aspekte einer Sprache zu erfassen. Sprachliche Kommunikation ist ein Schlüsselaspekt. In Abhängigkeit von bestimmten theoretischen Entscheidungen gilt für die ITL entweder, daß sie die Integrative Kommunikationstheorie (Integrational Theory of Communication) voraussetzt (präsupponiert), oder, daß sie eine Erweiterung dieser Theorie ist.

Die Kommunikationstheorie wurde zuerst in Lieb (1968c) formuliert und danach in einer korrigierten und stark erweiterten Fassung in Lieb (1970c); man vergleiche auch Lieb (1993g). Das Schwergewicht liegt auf der Entwicklung allgemeiner Begriffe zur Erfassung von Variabilität in Kommunikationssystemen. Verständigungshandlungen – bei Menschen, Tieren oder möglicherweise Maschinen – bilden den theoretischen Ausgangspunkt, aber die Einzelheiten zu Verständigungshandlungen wurden bisher nicht behandelt; aus diesem Grunde müssen wesentliche Teile der Theorie noch ausformuliert werden.

Für jede Art von Kommunikation, sei sie sprachlich oder nicht-sprachlich, werden Verständigungsmittel angenommen als Mengen von Form-Bedeutungs-Paaren, auf einer niedrigen Abstraktionsstufe gegenüber realen Äußerungen; jedes Verständigungsmittel wird festgelegt durch ein System von diesem Mittel. Im Hinblick auf solche Mittel werden zwei Relationen als grundlegend angesetzt: Ein Handelnder kommuniziert regelmäßig mittels eines Kommunikationsmittels während einer gewissen Zeit und beherrscht ein solches Mittel während einer gewissen Zeit, wobei Beherrschung impliziert, daß in dem Handelnden während dieser Zeit eine innere Grundlage für ein System des Mittels existiert.    

Verständigungskomplexe sind Mengen von Verständigungsmitteln. Ein Verständigungskomplex kann festgelegt sein durch ein System für den Komplex, durch eine Menge von Eigenschaften gewisser Art, die allen Verständigungsmitteln in dem Komplex zukommen. Die Verständigungsmittel und ihre Systeme (‚Systeme von‘) sind durch die beiden grundlegenden Relationen mit Kommunizierenden und mit Raum und Zeit verbunden. Dies gilt daher auch für Verständigungskomplexe und ihre Systeme (‚Systeme für‘): Zu den Komplexen und ihren Systemen gibt es Mengen von Kommunizierenden in Raum und Zeit; diese können dazu dienen, die Komplexe und ihre Systeme auf Raum und Zeit zu beziehen, was zu Stadien und Perioden  eines Komplexes führt.


2.  Größere Teiltheorien


2.1  Die Theorie sprachlicher Variabilität

Diese Theorie setzt entweder die Integrative Kommunikationstheorie voraus, oder sie ist eine Erweiterung der Kommunikationstheorie: Idiolekte sind ‚sprachliche Verständigungsmittel‘ und Sprachen und ihre Varietäten sind ‚sprachliche Verständigungskomplexe‘. Für eine Einführung in diese Konzeption vergleiche man Lieb (1983b: Teil A). Der zeitliche Aspekt – ‚Sprachen in der Zeit‘ – ist ausführlich, wenn auch auf relativ abstrakter Ebene untersucht in Lieb (1970c). Einen Rahmen für Variabilität insgesamt biete in den Einzelheiten Lieb (1993g), entwickelt für beliebige Verständigungsmittel und Verständigungskomplexe und für Sprachen folgendermaßen.

Idiolekte sind Mengen von Form-Bedeutungs-Paaren, wobei die Formen bei mündlichen Idiolekten eng phonetisch sind; die Bedeutungen sind vom Typ der Satzbedeutungen. Ein Idiolekt ist festgelegt durch ein System von dem Idiolekt. Sprachen (d.h. historische Sprachen und ihre Perioden) sind Mengen von Idiolekten, und ein System für eine Sprache ist eine Menge bestimmter Eigenschaften (‚komponenten-spezifizierende Eigenschaften‘), die allen Systemen von Idiolekten der Sprache zukommen.

Jede Sprache hat eine Ausprägungsstruktur (Varietätenstruktur), ein bestimmtes Klassifikationssystem (also eine Menge von Klassifikationen, bei denen sich überschneidende Klassen zugelassen sind) auf der Sprache, ein System, dem Kriterien von Raum, Zeit, Situationstyp usw. zugrunde liegen. Die Ausprägungen (Varietäten) einer Sprache – einschließlich von Registern – sind die Klassen in der Ausprägungsstruktur. Die Idiolekte der Sprache sind homogen im Hinblick auf die Ausprägungsstruktur, insofern ein Idiolekt nur als ganzer zu einer Ausprägung gehören kann; in der Regel gehört ein Idiolekt gleichzeitig zu mehreren Ausprägungen. Jeder Sprecher einer Sprache hat eine persönliche Ausprägung (persönliche Varietät) zur Verfügung, eine Menge von Idiolekten der Sprache, die normalerweise mehr als ein Element enthält.

Zu jedem Stadium einer Sprache – verstanden als zeitliche Ausprägung der Sprache – gibt es eine Kette von Systemen für das Stadium, in der jedes nicht-erste System abstrakter ist als das vorhergehende und das erste System das Stadium festlegt, während die folgenden Systeme zunehmend umfangreichere zeitliche Teile der Sprache festlegen. Entsprechendes gilt für Sprachausprägungen und ihre Stadien.


2.2  Die Theorie des Sprachgebrauchs

Dies ist der am wenigsten entwickelte Teil der ITL und noch ohne gesonderte Formulierung.

Eine Verständigung mittels Idiolekten wird in Lieb (1983b: Teil A) sowie in Lieb (1993g: Kap. 6) verteidigt gegen eine Reihe von Einwendungen, etwa, daß die grundlegende Relation des Kommunizierens den Adressanten nicht ausdrücklich berücksichtige oder daß sozialen Aspekten nicht Rechnung getragen würde.

Idiolekte sind Mengen von Form-Bedeutungs-Paaren, zwar auf einer niedrigen Abstraktionsebene gegenüber Äußerungen, aber immer noch abstrakt. Ein bedeutsames Problem besteht darin, solche Paare auf tatsächliche Äußerungen zu beziehen, die konkret (Gegenstände in Raum und Zeit) sein oder wenigstens konkrete Komponenten haben müssen. In Lieb (1983b) werden Begriffe der normalen Äußerung eingeführt, um ‚Sätze‘ – auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen und nicht notwendig von Standardform – zu Äußerungen in Beziehung zu setzen, bei besonderer Berücksichtigung von Satzbedeutungen. (Die Konzeption von Satzbedeutungen ist ‚pragmatisch‘ und trägt Sprechakten Rechnung.) Mehr als ein Begriff der normalen Äußerung könnte sich als notwendig erweisen. Allgemein ist es Aufgabe der Integrativen Theorie des Sprachgebrauchs, Begriffe der normalen Äußerung zu explizieren. Im größeren Rahmen der Integrativen Sprachtheorie wird dies dadurch erleichtert, daß die Integrative Sprachsystem-Theorie äußerungsorientiert ist, und zwar besonders in ihrem semantischen Teil.

Äußerungen sollten in ‚Texte‘ einbezogen werden, was wiederum in der Integrativen Theorie des Sprachgebrauchs zu klären ist (hierzu vgl. Lieb 1982a, 2009).


2.3  Die Integrative Sprachsystem-Theorie (Integrational Theory of Linguistic Systems – ITLS)

Die Theorie behandelt die folgenden Hauptaspekte sprachlicher Systeme: die phonetisch-phonologischen, morphosyntaktischen (d.h. die morphologischen, syntaktischen und Wortbildungsaspekte), lexikalisch-semantischen und satzsemantischen (einschließlich des Sprechaktaspekts).

Von Anfang an wurde die ITLS als voll vereinbar mit der Theorie der sprachlichen Variabilität konzipiert. Zu diesem Zwecke wurden die Systeme von Idiolekten als grundlegend angesetzt. Die ITLS und ihre verschiedenen Teile behandeln primär solche Systeme und erst hiervon abgeleitet Systeme für Sprachen und ihre Ausprägungen.

Die Integrative Sprachsystemtheorie ist bei weitem der bestentwickelte Teil der Integrativen Sprachtheorie (vgl. „Integrative Sprachwissenschaft: Entwicklung und Aktualität“ auf der vorliegenden Homepage) und wird deshalb getrennt als Teil II des Abrisses der Integrativen Sprachtheorie dargestellt.           


Literaturverzeichnis

(Es werden nur Arbeiten von Lieb aufgeführt. Zu relevanten Veröffentlichungen anderer Autoren vergleiche man auf der vorliegenden Homepage „Integrative Sprachwissenschaft: Entwicklung und Aktualität“ sowie allgemein die Gesamtbibliographie, aus der auch die folgenden Titel zitiert werden.) 

1968c. Communication complexes and their stages: A contribution to a theory of the language stage. The Hague; Paris: Mouton.(= Janua Linguarum, Series minor 71).

1970c. Sprachstadium und Sprachsystem: Umrisse einer Sprachtheorie. Stuttgart etc.: Kohlhammer.

1982a. "A text: what is it? A neglected question in text linguistics". In: János S. Petöfi (ed.),  Text vs. sentence continued. Hamburg: Buske. 134–158. [Geschrieben 1979]. 

1983b. Integrational Linguistics. Vol. I: General Outline. Amsterdam; Philadelphia: Benjamins. (= Current Issues in Linguistic Theory 17).

1993g. Linguistic variables: Towards a unified theory of linguistic variation. Amsterdam;Philadelphia: Benjamins. (= Current Issues in Linguistic Theory 108). 

2009. "Bemerkungen zu Satz, Satzverbindung und Text". Appendix in: Svetlana Friedrich, Definitheit im Russischen. Frankfurt am Main etc.: Peter Lang. (= Potsdam Linguistic Investigations — Potsdamer Linguistische Untersuchungen — Recherches Linguistiques à Potsdam 4). 235–237. 

2017. (ed.). Linguistic research in progress: Proceedings of the Berlin Research Colloquium on Integrational Linguistics 1992 – 2003 (Parts I to XXII) / Berliner Forschungskolloquium Integrative Sprachwissenschaft 1992-2003. Protokolle (Teil I bis  XXII). Berlin: Freie Universität Berlin. [Ca. 2000 pp.] http://edocs.fu-berlin.de/docs/receive/FUDOCS_series_000000000782